„Es fühlt sich an, als wären wir neu geboren.“ Diese Worte hörte ich immer wieder von Menschen in Syrien, mit denen ich in den letzten Tagen Kontakt aufgenommen habe. Nach über fünf Jahrzehnten autoritärer Herrschaft und Unterdrückung durch das Assad-Regime beginnt in Syrien ein neues Kapitel. Doch wie bei jeder Geburt ist der Prozess schmerzhaft und langwierig. Die größte Herausforderung besteht nun nicht nur darin, die Überreste des alten Regimes zu beseitigen, sondern auch in der Transformation hin zu einem modernen, pluralistischen und demokratischen Staat, der die kulturelle und religiöse Vielfalt seines Volkes respektiert.
Der schwierige Übergang von Autoritarismus zur Demokratie
Autoritäre Systeme wie das Assad-Regime hinterlassen nach ihrem Fall eine zerstörte gesellschaftliche und institutionelle Infrastruktur. Sie schwächen systematisch die Zivilgesellschaft, zerstören politische Oppositionen und schaffen Sicherheits- und Verwaltungsapparate, die nicht der Gesellschaft, sondern der Sicherung ihrer Macht dienen. Der demokratische Übergang in Syrien wird daher kein einfacher Weg sein. Er erfordert den nahezu vollständigen Wiederaufbau staatlicher Institutionen und eine neue Beziehung zwischen Staat und Bürger*innen.
Ein zentraler Schritt in diesem Prozess wird die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sein, die Rechte und Freiheiten garantiert und sicherstellt, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in den politischen Prozess einbezogen werden. Doch diese Transformation wirft auch eine der zentralen Fragen für Syriens Zukunft auf: Wie soll die Beziehung zwischen Religion und Staat gestaltet werden?
Religion und Staat: Eine komplexe Gleichung
Eine der größten Herausforderungen für das neue Syrien ist die Neudefinition der Beziehung zwischen Religion und Staat. Das Assad-Regime nutzte Religion häufig als politisches Werkzeug, um Spaltungen zu schüren und seine Herrschaft zu festigen. Mit dem Sturz des Regimes bleibt dieses Thema äußerst sensibel, insbesondere in einem Land mit einer reichen Vielfalt an religiösen und konfessionellen Gruppen.
Syrien hat historisch gesehen eine Gesellschaft, die sich durch Offenheit und religiöse Toleranz auszeichnet. Dieses kulturelle Erbe kann eine Grundlage sein, um eine ausgewogene Beziehung zwischen Religion und Staat aufzubauen – eine, die auf der Trennung von religiösen Ideologien und Politik beruht, ohne dabei bestimmte Gruppen oder Glaubensgemeinschaften auszugrenzen.
Ein moderner syrischer Staat sollte sich auf nationale Identität und Bürgerrechte konzentrieren, anstatt Religion als Mittel politischer Dominanz zu nutzen. Eine neue Verfassung muss diese Prinzipien widerspiegeln, indem sie sowohl individuelle als auch religiöse Freiheiten schützt. Die Herausforderung besteht darin, ein inklusives und ausgewogenes System zu schaffen, das die Vielfalt und das Wesen der syrischen Gesellschaft respektiert und verkörpert.
Die syrische Gesellschaft: Stärke durch Offenheit und Toleranz
Trotz der langanhaltenden Unterdrückung hat die syrische Gesellschaft eine bemerkenswerte Resilienz gezeigt. Historisch ist sie geprägt von Koexistenz und kultureller Vielfalt, mit Muslim*innen, Christ*innen und anderen Gemeinschaften, die überwiegend harmonisch zusammenlebten.
Dieses gesellschaftliche Fundament kann als Brücke dienen, um ein neues, pluralistisches und demokratisches Syrien zu erbauen. Doch dies erfordert, dass die tiefen Wunden des Krieges und die durch das Assad-Regime geschürten Spaltungen geheilt werden. Nationale Dialoge, die alle syrischen Gemeinschaften einbeziehen, sind entscheidend, um Vertrauen wiederherzustellen und eine gemeinsame Vision für die Zukunft des Landes zu entwickeln.
Grundpfeiler eines neuen Staates
Neben einer neuen Verfassung werden künftige Gesetze und Institutionen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des neuen Syrien spielen. Diese Gesetze müssen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gewährleisten und jede Form von Diskriminierung aufgrund von Religion, Geschlecht oder Herkunft ausschließen. Ein unabhängiges Justizsystem und die Wahrung der Meinungsfreiheit sind ebenfalls unabdingbar. Demokratie kann nur dann gedeihen, wenn es Institutionen gibt, die die Rechte der Bürger*innen schützen und sicherstellen, dass keine Rückkehr zu autoritärer Herrschaft möglich ist.
Der demokratische Wandel in Syrien wird schwierig sein, aber er ist unvermeidlich. Der Weg mag voller Hindernisse sein, doch das syrische Volk hat immer wieder seine Fähigkeit zur Anpassung und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Das neue Syrien muss ein Staat für alle seine Bürger*innen sein – ein Staat, der Pluralismus respektiert, Freiheiten schützt und Religion von der Politik trennt, ohne die kulturellen und religiösen Werte seiner Gesellschaft zu gefährden.
„Es fühlt sich an, als wären wir neu geboren.“ Dieser Satz, der heute von vielen Syrern geäußert wird, ist nicht nur Ausdruck von Freude über das Ende des Regimes, sondern auch ein Zeugnis der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – trotz der Schmerzen und Herausforderungen des Übergangsprozesses.