Am Donnerstag öffnete ich Telegram und erfuhr, dass Kämpfer der „al-Fulul“ (zu Deutsch „die Reste“) – so nennen viele Syrerinnen die Armee unter Assads Kontrolle – öffentliche Sicherheitskräfte und Militärkontrollpunkte in Nordwesten von Syrien angegriffen haben, in Küstenstädten mit mehrheitlich alawitischer Bevölkerung. Diese Angriffe erfolgten in Form koordinierter, zeitgleicher Hinterhalte und forderten Dutzende Tote sowohl unter Sicherheitskräften als auch unter Zivilistinnen.
Es heißt, dass mehr als 60 Orte und vier große Städte belagert wurden. Diese Meldung war für mich sehr überraschend, denn offenbar handelt es sich um einen groß angelegten Angriff, an dem wahrscheinlich mehr als 10.000 Soldaten, die Assad nahestehen, beteiligt waren. Weitere Berichte besagen, dass die neue Regierung in verschiedenen Gebieten Männer zum Kämpfen an die Küste einladen, um gegen die „al-Fulul“ vorzugehen.
In vielen Telegram-Gruppen, besonders von islamistischen Kreisen, die der HTS nahestehen, richtete sich große Wut gegen Ahmed al-Sharaa (al-Julani). Man gibt ihm die Schuld, da er am 8.12.24 viele ehemalige Soldaten der Assad-Armee freigelassen und nach Hause geschickt haben soll. Diese hätten sich nun in den vergangenen drei Monaten organisiert, angeblich mit Unterstützung aus dem Iran sowie von Assads Bruder. Berichten zufolge haben sie inzwischen mehr als 125 Mitglieder der neuen staatlichen Sicherheitskräfte getötet. Es gibt noch keine offiziellen Zahlen über die Verschleppten, ihr Verbleib ist weiterhin ungewiss.
Viele Kämpfer machten sich daraufhin auf den Weg an die Küste, um „Rache“ für das Leid der letzten 14 Jahre zu üben. Diese Rache richtete sich aber leider auch gegen Frauen, Kinder und unbewaffnete Männer. In zahlreichen Nachrichten und Videos war zu sehen, wie Soldaten von anderen Milizen, die HTS nahestehen und Teil der neuen syrischen Armee werden, Drohungen gegen alawitische Familien aussprechen. Wie al-Sharaa sagte, hat Assad tiefe Wunden in der syrischen Gesellschaft hinterlassen – und dies ist nun eine der bitteren Folgen.
Es kam zudem die Meldung, dass die drei Brüder der syrischen Aktivistin Hanadi Zahlout, die sich lange gegen Assad stellte, getötet wurden. Der Bruder des ehemaligen Häftlings in Assads Gefängnis, Samir Haidar, wurde ebenfalls umgebracht. Viele alawitische Oppositionelle, die ebenfalls gegen Assad waren, verloren Familienangehörige, nur weil sie Alawiten sind.
Die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, dass zusätzlich zu den 745 getöteten Zivilist*innen – die meisten offenbar aus nächster Nähe erschossen – 125 Angehörige der Regierungssicherheitskräfte und 148 Kämpfer bewaffneter, mit Assad verbundener Gruppen, getötet wurden. Darüber hinaus sei in vielen Gebieten um Latakia Strom und Trinkwasser abgestellt worden. Es seien rund 10.000 Menschen in den Libanon geflüchtet.
Die Frage nach Schuld und Verantwortung
Viele Syrer*innen fragen sich nun, wer die moralische Verantwortung für diese Gewalt trägt. Rechtlich gesehen lastet die Schuld auf den Tätern und ihren Anführern. Doch moralisch zeigt jede Seite mit dem Finger auf die jeweils andere: Menschen, die HTS nicht unterstützen, geben die Verantwortung der neuen Regierung und dem Präsidenten, weil sie in diesen Gruppen nur gewaltsame Lösungen sehen. Die Assad-Anhänger hingegen sehen die Schuld bei HTS und den anderen Milizen.
Die HTS-Anhänger wiederum machen Assad und seine militärische Führung sowie den Iran verantwortlich, die dieses Vorgehen angeblich finanziell und organisatorisch unterstützt haben sollen. Sie sagen, diese hätten die Alawiten für politische Ziele missbraucht und lebten nun sicher und wohlhabend in Russland.
Andere wiederum weisen die Verantwortung HTS zu, da diese es seit dem 8.12. versäumt habe, mit anderen Kräften in ganz Syrien eine gemeinsame Lösung zu finden. Weil es keine entscheidenden Schritte in Richtung eines neuen Syriens gab, hätten viele Alawiten keine Sicherheit gesehen und sich deshalb bewaffnet.
Das grundsätzliche Problem besteht darin, dass Syrien vor zahllosen Herausforderungen steht. Erstens haben wir noch keinen funktionsfähigen Staat, was viel Zeit benötigt. Wir brauchen Institutionen, denen alle Bürger*innen vertrauen können. Zweitens fehlen uns wesentliche staatliche Strukturen wie eine Polizei und eine Armee. Die alten Einheiten wurden aufgelöst, und die neuen sind zu schwach, um ganz Syrien zu kontrollieren. Außerdem bestehen sie häufig noch aus Milizen, die seit 14 Jahren im Einsatz sind. Wie soll daraus eine neue, geeinte Armee geformt werden?
Ich verteidige Ahmed al-Sharaa nicht, denn er hat ohne Zweifel viele Fehler gemacht. Sein größter Fehler ist vielleicht, dass er alles kontrollieren will und nur auf loyale Leute setzt, die keine Erfahrung mit Regierungsarbeit haben. Dennoch spielt al-Sharaa eine große Rolle für Syrien, denn viele Syrer*innen vertrauen ihm. Er sollte aber auch das Vertrauen der anderen gewinnen, indem er eine technokratische Regierung bildet, in der erfahrene Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen Syriens vertreten sind.
Allerdings sitzt al-Sharaa zwischen zwei Feuern: Einerseits braucht er den Schutz der konservativen Teile von HTS und anderer Gruppen, um äußeren Bedrohungen zu begegnen. Andererseits ist er Präsident ganz Syriens und muss das Vertrauen aller Bürger*innen gewinnen. Zudem stehen unzählige weitere Herausforderungen an, insbesondere die katastrophale Wirtschaftslage. Wenn sich diese nicht verbessert, droht Syrien eine Hungersnot. Angesichts der vielen Opfer und des verlorenen Vertrauens zwischen den Menschen wird das noch schwerer zu bewältigen sein.
Al-Sharaa hat an diesem Wochenende zwei Reden an die Syrerinnen gerichtet. Er kündigte an, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, der die Ereignisse an der Küste untersuchen, die Verantwortlichen vor Gericht bringen und die Wahrheit dem syrischen Volk offenlegen soll, damit alle wissen, wer für diese Unruhen und Pläne verantwortlich ist. Außerdem soll ein Oberstes Komitee zur Wahrung des gesellschaftlichen Friedens eingerichtet werden. Im Auftrag der Präsidentschaft soll dieses Komitee direkt mit den Bewohnerinnen der Küstenregion in Kontakt treten, ihnen zuhören, die nötige Unterstützung leisten, ihre Sicherheit und Stabilität schützen und die nationale Einheit in dieser sensiblen Phase stärken.
Ob das genügt, ist fraglich – vor allem, wenn man bedenkt, dass Israel, Iran und teilweise Russland ein eigenes Spiel spielen und Syrien möglicherweise weiter spalten wollen. Nach diesem Massaker wird es noch schwieriger sein, das Vertrauen von Minderheiten zurückzugewinnen. Das erfordert viel Arbeit und ist nur möglich, wenn alle Syrerinnen erkennen, dass sie gemeinsam Opfer von Unrecht wurden. Keine einzelne Gruppe kann dieses Unrecht allein überwinden. Am Ende bleibt mir nur zu wünschen, dass Barmherzigkeit und Vergebung für alle Syrerinnen möglich werden.
Hast du weitere Fragen zu meiner Reise nach Syrien oder der aktuellen Lage? Dann schreib mir gerne.
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Israelische Regierung will Kontrolle über syrische Gebiete verstärken
Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsausschusses der israelischen Knesset (Parlament des Staates Israel), Bo'az Bismut, äußerte in einer Haushaltsdebatte, Syrien müsse vollständig Israel untergeordnet sein, ähnlich wie Jordanien, jedoch ohne militärische Fähigkeiten. Tel Aviv wolle nach einem Sturz des Assad-Regimes keine neue militärische Macht in Syrien entstehen lassen. Gleichzeitig betonte Bismut, Damaskus solle unter israelischer Kontrolle stehen und diene als „Brücke“ zum Euphrat, Irak und Kurdistan.
Währenddessen besuchte der neue israelische Generalstabschef Eyal Zamir die von Israel besetzte Pufferzone im Süden Syriens an den Golanhöhen, um die Lage zu beurteilen und die Einsatzbereitschaft der Truppen zu überprüfen. Anschließend traf er sich mit Premierminister Benjamin Netanjahu.
Israel kündigte zudem an, demnächst drusischen Arbeitskräften aus Syrien die Einreise zu erlauben, um in Siedlungen auf den besetzten Golanhöhen zu arbeiten. Diese Maßnahme ist Teil eines Programms, das über eine Milliarde US-Dollar zur Unterstützung drusischer Gemeinschaften vorsieht. Ministerpräsident Netanjahu und Finanzminister Bezalel Smotrich betonten, dass Israel sich verpflichtet fühle, die Drusen in Syrien und der Region zu schützen und sie in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Laut „Wall Street Journal“ plant die israelische Regierung insgesamt mehr als eine Milliarde Dollar auszugeben, um Drusen in Syrien von der neuen Regierung zu distanzieren, da Tel Aviv eine Bedrohung durch „von der Türkei unterstützte Islamisten“ befürchte.
Eine Einheit der israelischen Besatzungsarmee ist am frühen Montagmorgen zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden in das Dorf Jomla in der Region Hawd al-Jarmuk im westlichen Umland der Provinz Daraa im Süden Syriens eingedrungen. Lokale Quellen vermuteten laut der Website „Daraa 24“, dass dieser Vorstoß dem Zweck diente, nach Waffen zu suchen. Außerdem drang die israelische Einheit in das Dorf Saisun sowie in die dortige ehemalige Militärstellung ein. Im mittleren Umland der Provinz al-Quneitra drang eine Einheit der israelischen Besatzungsarmee in das Dorf Rasm al-Halabi ein und betrat die frühere Militärbasis, wo sie Erdarbeiten durchführte, bevor sie sich wieder zurückzog.
US-Außenminister fordert Konsequenzen nach Massaker in Syrien
Der US-Außenminister Marco Rubio hat die neue syrische Regierung dazu aufgerufen, die Verantwortlichen für Massaker an Minderheiten in Syrien zur Rechenschaft zu ziehen. In einer Erklärung des US-Außenministeriums am Sonntag, dem 9. März, erklärte Rubio, die Vereinigten Staaten verurteilten diejenigen, die er als „extremistische islamistische Terroristen“ bezeichnete, darunter ausländische Dschihadisten, die in den letzten Tagen im Westen Syriens Menschen getötet hätten.
Rubio fügte hinzu, dass die Vereinigten Staaten an der Seite der religiösen und ethnischen Minderheiten in Syrien stünden – darunter christliche, drusische, alawitische und kurdische Gemeinschaften – und sprach den Opfern und ihren Familien sein Beileid aus.
Kritik an deutschen Abschiebeplänen
Nach dem Massaker an über 830 Alevitinnen in Syrien fordern deutsche Politikerinnen eine Einschränkung der Entwicklungshilfe an Syrien sowie den Stopp von Abschiebungen. Laut dem Tagesspiegel betonte CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt in der Welt am Sonntag, dass Entwicklungshilfe „an strikte Bedingungen geknüpft und jederzeit wieder rückfahrbar sein“ müsse. Auch Clara Bünger von den Linken forderte in der Welt, dass Hilfsgelder gezielt zur Förderung demokratischer Strukturen genutzt werden müssen. Gregor Gysi (Linke) sprach sich gegen Abschiebungen nach Syrien aus: „Ohne eine Klärung, ob die Führung Minderheiten schützt oder verfolgt, ist eine Abschiebung nicht zulässig.“
Tareq Alaows, Sprecher von Pro Asyl, kritisiert das geplante Vorhaben der CDU, Abschiebungen nach Syrien wieder durchzuführen. „Statt die Aufarbeitung gegen die Menschlichkeit und Gerechtigkeitsprozesse in Syrien zu unterstützen, verhandeln SPD und CDU/CSU über Abschiebungen in ein Land, in dem über 90 % der Bevölkerung in Armut lebt und das komplett zerstört ist“, schreibt er in den sozialen Medien.
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