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Nun aber zum heutigen Rezept und unserer Autorin Claire Hattab. Claire steht kurz vor dem Abschluss ihres Bachelors in Europäischer Ethnologie und macht ein Praktikum bei kohero. Sie schreibt über Themen wie Identität, Zugehörigkeit und Kultur. Das hat sie auch für die heutige Ausgabe von nelken & nostalgie gemacht. Sie teilt ihr Familienrezept zu Tielle Sétoise — ein Gebäck, das mit Tomaten und Tintenfisch gefüllt ist. Es stammt aus der Heimat von Claires Vater: der Stadt Sète im Süden Frankreichs.
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Liebe Grüße und viel Spaß beim Nachkochen, deine Natalia
Tielle Sétoise – Meer, Olivenbäume und Soulfood
Wenn ich an die Heimat meines Vaters denke, fühle ich eine tiefe Verbundenheit zum Meer, denke an Olivenbäume und Tomaten. Mein Vater ist im Süden Frankreichs, in der Nähe der spanischen Grenze aufgewachsen: in der poetischen Stadt Sète. Wenn ich an Sète denke, denke ich auch an Gerichte wie spanisches Paella, marokkanischen Couscoussalat – Taboulé, und an verschiedene Meeresfrüchte und Fisch: Langusten, Muscheln, Tintenfisch …
Ein Gericht, das besondere Nostalgie in mir auslöst, ist die Tielle Sétoise. Eine Art Pizza mit Deckel, gefüllt mit Oktopus und Tomaten. Für mich spiegelt das Gericht die Geschichte und Kultur von Sète wider.
L’Occitanie
Der Süden Frankreichs, insbesondere die okzitanische Region, ist seit Jahrhunderten ein Schmelztiegel von Kulturen, geprägt durch Einwanderung aus Spanien, Süditalien und dem Maghreb. Diese Vielfalt zeigt sich besonders in der Küche der Stadt Sète. Auch meine Familie hat Wurzeln in Andalusien und im Norden Algeriens.
Doch die Geschichte Frankreichs ist auch eine Geschichte von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – bis heute. Familien mit Einwanderungsgeschichte mussten oft Hürden überwinden: von Vorurteilen im Alltag bis hin zu struktureller Diskriminierung, die häufig begrenzte Chancen und den Verlust der eigenen Kultur zur Folge hatten. Viele kulturelle Praktiken gingen dabei verloren, um sich anzupassen und dazuzugehören.
Die Küche von Sète ist ein Spiegelbild dieser Migration und ihrer Geschichte. Das Gastronomie-Angebot der Stadt zeugt vom Einfluss des spanischen Südens, dem Maghreb und Regionen Westafrikas, allerdings bleibt der Einfluss der italienischen Einwanderer*innen prägend.
Sonnenschein, Salz und Seele
Meine Familie und ich waren jeden Sommerurlaub meiner Kindheit und Jugend in Sète. Den Großteil der Zeit verbrachten wir mit Familientreffen und Zeit am Meer. Mein Vater, ein leidenschaftlicher Schwimmer, hat meine Schwester und mich schon früh in die Unterwasserwelt eintauchen lassen. Besonders ein Fisch ist tief in meinem Gedächtnis verankert: der Tintenfisch. Nach einem langen Tag am Meer haben wir häufig beim Bäcker eine frische Tielle geholt. Wenn wir den Sommer in Südfrankreich verbrachten, war es normal, bei Familienmitgliedern unterzukommen. Also verbrachten wir viele Abendessen mit der ganzen Familie an einem kleinen Couchtisch und haben von einem Buffet aus vielen kleinen Speisen gegessen. Oft waren frische Tielle, Tomatensalat und Taboulé mit dabei.
La Tielle Sétoise:
Die Geschichte der Tielle beginnt im Fischerdorf Gaeta, nördlich von Neapel, unter der Herrschaft von Karl V. Dort entdeckten die Einheimischen eine spanische Pizza mit Deckel, die den Belag vor dem Austrocknen schützt. Drei Jahrhunderte später brachten Auswanderer*innen aus dem Mezzogiorno die Tielle nach Sète, wo sie zum Nationalgericht wurde. Anders als in Gaeta, wo es Varianten mit Muscheln oder Zucchini gibt, wird sie in Sète traditionell mit Tintenfisch gefüllt.
Das Meer, die raue Herzlichkeit der Menschen und Gerichte wie die Tielle wecken in mir Sehnsucht und Heimweh – Heimweh nach meiner zweiten Heimat.
Viel Spaß beim Ausprobieren!
Deine Claire
Das Rezept: Tielle Sétoise
Zutaten:
Der Teig
- 500 g Mehl
- 2 EL Olivenöl
- 1 TL (gehäuft) Trockenhefe
- Wasser
Die Füllung
- 1 kg Tintenfisch
- 1 große Zwiebel
- 3 Knoblauchzehen
- 3 EL Tomatenmark
- 3 Tomaten, geschält
Die Court-bouillon
- 1 l Wasser
- 150 ml trockener Weißwein
- Lorbeer, Thymian, Piment d’Espelette, Pfeffer, Salz, wahlweise auch Rosmarin und/oder Thymian
Zum Würzen
- Pfeffer
- Salz
- Piment d’Espelette
Zubereitung:
- Zuerst wird aus dem Mehl, Wasser, Olivenöl, Salz und Hefe ein Brotteig angesetzt und an einem kühlen Ort abgestellt, damit er ruhen und aufgehen kann.
- In der Zwischenzeit wird der Tintenfisch gereinigt und einer Court-bouillon (gekochte Brühe für das Pochieren von Fisch oder Meeresfrüchten) 20 Minuten lang gekocht. Die Brühe besteht aus 1l Wasser, 150 ml trockenem Weißwein, Lorbeer, Thymian, etwas Piment d’Espelette, Pfeffer und Salz. Dieser Schritt ist wichtig für den Erhalt der Aromen.
- Anschließend wird die Haut des Tintenfisches abgezogen und das Fleisch in rund zwei Zentimeter große Stücke geschnitten.
- Dann wird eine große Zwiebel in Würfel geschnitten, die drei Knoblauchzehen gehackt und mit 3 EL Tomatenmark gedünstet.
- Die drei geschälten Tomaten werden fein zerdrückt und mit dem Tintenfisch, etwas Piment, Salz und Pfeffer in die Pfanne hinzugegeben und zehn Minuten auf kleiner Flamme eingedickt.
- Der Teig wird nun in zwei Stücke geteilt. Nachdem die runde Backform (moule de tourte) mit Öl eingefettet wurde, wird die eine Teighälfte ausgerollt und in die Backform gelegt.
- Dann wird die Tomaten-Tintenfisch-Füllung auf den Teig gegeben und schließlich wird der Teigdeckel ausgerollt und auf die Füllung gelegt. Dort, wo Unter- und Oberseite des Teiges aufeinander treffen, beide Seitenränder mit Wasser befeuchten und gut andrücken.
- Zu guter Letzt wird ein wenig Tomatenmark mit Olivenöl vermischt, um damit den Teigdeckel zu bestreichen. Dies verleiht ihm eine wunderschöne, orangefarbene Färbung.
- Im vorgeheizten Ofen bei 200 – 220 Grad Celsius rund 15-20 Minuten auf mittlerer Schiene backen – et voilà!
Das Geheimnis
Das Geheimnis des Rezepts sind ein hochqualitativer Tintenfisch und frische Tomaten.
Die Krake gilt übrigens als Symbol der Stadt. Sie spiegelt den maritimen Geist und die Identität von Sète wider und ist wichtiger Bestandteil der Gastronomie, Festen und Veranstaltungen. Vermutlich auch, weil sie über Jahrhunderte das Überleben von einkommensschwachen Fischerfamilien sicherte.