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Zukunftsvisionen der Migrationspolitik

Wie können wir Migrationspolitik als Gesellschaft solidarisch gestalten? Mit dieser Frage setzte sich ein Vortrag des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung auseinander. kohero Autorin Anna war dabei.

Zukunftsvisionen der Migrationspolitik
Fotograf*in: Ion Fett auf unsplash

Einen Tag, nachdem die AfD bei den Europawahlen auf fast 16 % kommt und damit bundesweit zweitstärkste, teilweise sogar stärkste Partei ist, sitze ich in einem Vortrag des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung zur Veranstaltungsreihe „Es geht auch anders! Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft“. Von den gestrigen Wahlergebnissen bin ich niedergeschlagen, deswegen erhoffe ich mir von den versprochenen Zukunftsvisionen viel, ähnlich wahrscheinlich die ca. 60 anderen Teilnehmer*innen, die zeitgleich mit mir im Zoom-Call sitzen.

Doch einfache Antworten gibt es nicht. „Wo bleiben die Visionen?“, fragt nach 20 Minuten ungeduldig jemand im Chat und gibt damit das allgemeine Stimmungsbild wieder und die Sehnsucht nach einem Mittel gegen die Ohnmacht, die viele von uns gerade spüren. Konkrete Handlungsanweisungen werden wir auch am Ende des Vortrags keine an die Hand bekommen. So einfach ist es leider nicht. Aber ich habe viele Anregungen mitbekommen, Migrationspolitik, Gesellschaft und Solidarität nochmal neu zu denken.

Die zweite Ausgabe der Veranstaltungsreihe beschäftigt sich mit dem Thema Solidarität. Dazu sprechen die Gastdozent*innen Prof. Dr. Manuela Bojadžijev und Dr. Bernd Kasparek vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Beide sind auch Teil des Projekts Transforming Solidarities, das untersucht, welche solidarischen Praktiken etabliert und wie diese verfestigt und reproduzierbar gemacht werden können. Moderiert wird der Vortrag von Geraldine Mormin von der Heinrich-Böll-Stiftung aus Sachsen-Anhalt.

"Solidarität verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändert auch Solidarität"

Solidarität wird bei Transforming Solidarities doppelt gedacht: Solidarität verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändert auch Solidarität. Migration sei in diesem Sinne nur ein Faktor, der darauf aufmerksam mache, welche gesellschaftlichen Strukturen noch nicht gut funktionierten, wo Handlungsbedarf bestehe. Schlussendlich wirft Migration gesellschaftliche Fragen auf, die wir uns auch auf gesellschaftlicher Ebene beantworten müssen. Fragen nach bezahlbarem Wohnraum, nach Zugang zu Bildung, Zugang zu Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und Freizeitangeboten wie Schwimmbädern und Büchereien. Diese Fragen gelte es solidarisch zu beantworten. Denn die Verantwortung für mangelhafte Strukturen liegt nicht bei den Migrant*innen, so wie es rechte Parteien gerne propagieren, sondern bei der Gesellschaft als Ganzes.

Dass Solidarität Menschen etwas wegnehme und man nur solidarisch handeln könne, wenn quasi finanzielle Mittel über wären, das ist ein Trugschluss, so Bernd Kasparek. Die historische Erfahrung zeigt, dass Solidarität sich gerade dann bildet, wenn Personen fast nichts mehr zu verlieren haben. Der Diskurs darüber, nichts abgeben zu wollen und die Angst davor, etwas zu verlieren, das sei eigentlich ein Diskurs der Mittelklasse und genau dort ergebe sich auch verstärkt das Wähler*innenpotential rechter Parteien.

“Migration ist keine Ausnahme, sondern ein Kontinuum”

Bernd Kasparek betont, dass Investitionen in Strukturen des Ankommens notwendig sind. Investitionen in ihren Aufbau und ihren Erhalt. Um zu verdeutlichen, was passiert, wenn eine Infrastruktur lange Zeit vernachlässigt wird, zieht er das Beispiel der Deutschen Bahn heran. Hieran wird für jede*n offensichtlich, wie wichtig es ist, bestehende Infrastrukturen aufrechtzuerhalten.

Bisher hat man nach einem großen Zuwachs an Migration wie in den Jahren 2015 oder 2022 die dafür aufgebauten Strukturen aber schnell vernachlässigt und wieder abgebaut. Dabei wird die Tatsache verkannt, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist und das nicht erst seit 2015. „Migration ist keine Ausnahme, sondern ein Kontinuum“, sagt Manuela Bojadžijev dazu. Es gibt in Deutschland keine konstante Gesellschaft, sondern durch Abwanderung und Zuwanderung setzt sie sich ständig neu zusammen.

Historisch gesehen ist Migration aber nicht dadurch aufgehalten worden, dass man Mauern baut, so Manuela Bojadžijev. Sie hat dazu einen pragmatischen Ansatz: Wenn Migration sowieso kontinuierlich stattfinden wird, wie die Wissenschaft es zeigt, dann wäre es doch besser, diese Tatsache dazu zu nutzen, die Gesellschaft als Ganzes zu demokratisieren und zu verbessern, anstatt Migration weiterhin als Ausnahme-Phänomen zu behandeln und dagegen anzukämpfen.

“Deshalb müssen wir uns genau jetzt dafür einsetzen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt”

Bernd Kasparek zieht als bestes Beispiel für gelungene Migration Europa heran. „Einzigartig in der Geschichte der Menschheit“, nennt er das, was wir 1993 mit der Gründung der Europäischen Union geschaffen haben. Dass nun Frieden herrscht auf einem Kontinent, der davor 500 Jahre lang miteinander im Krieg gelegen hat, sei schon eine herausragende Errungenschaft. Das gelte es, sich wieder ins Bewusstsein zu rufen: „Deswegen müssen wir uns genau jetzt dafür einsetzen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

Was wäre eigentlich, wenn Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr Teil der deutschen Gesellschaft wären, so wie rechte Parteien sich das wünschen? Was würde mit unserer Gesellschaft passieren? Die Antwort liegt eigentlich klar auf der Hand, wenn man sich die Zahlen dazu ansieht. Ein Land wie Deutschland braucht eine Einwanderung von 300.000 bis 400.000 Personen pro Jahr, um überhaupt weiterhin bestehen zu können, sagt Bernd Kasparek.

Ein Drittel der Menschen in Deutschland hat Migrationshintergrund, davon viele teils in systemrelevanten Berufen, so hat zum Beispiel mehr als ein Viertel aller Ärzt*innen in Deutschland Migrationshintergrund und mehr als ein Fünftel der Pflegekräfte. Besonders hoch sind die Zahlen in der Altenpflege, wo fast ein Drittel der Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund hat. Allein dieser kleine Einblick in Berufe des Gesundheitswesens zeigt, dass das sowieso schon heruntergewirtschaftete Gesundheitssystem völlig zusammenbrechen würde, wenn diese Menschen nicht mehr Teil von Deutschland wären.

Paradoxe Effekte von Migration

Unsere Gesellschaft braucht Migration, sie ist ohne gar nicht zum Überleben fähig. Das wird deutlich am Fachkräftemangel und daran, dass auch rechte Parteien mit der Zuwanderung von Fachkräften keine Probleme haben. Doch hier zeigt sich ein gefährliches Denkmuster, dass Menschen in verschiedene Klassen einteilt. Eine Hierarchisierung von Personengruppen widerspricht allerdings unserem Grundverständnis von Demokratie. Artikel 3 unseres Grundgesetzes besagt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das gilt auch für Migrant*innen. „Es kann durch die Gesellschaft keine klare Linie gezogen werden“, so Bernd Kasparek.

Ein anderes Selbstverständnis von Migration wird in populistischen Diskursen herangezogen, das besagt, dass „alle kommen, wenn wir die Grenzen öffnen“. Aus historischer Sicht ist das aber falsch, so Manuela Bojadžijev. Die Wissenschaft sagt dazu nämlich etwas anderes. Paradoxerweise steigt die Migration genau dann an, wenn Einwanderungsbestimmungen restriktiver werden und pendelt sich nach einem kurzen Anstieg der Zahlen relativ schnell ein, wenn die Einwanderungsbestimmungen toleranter werden. Um diese Informationen in öffentliche Diskurse zu bringen, ist es wichtig, dass in Diskussionen über Migrationspolitik Menschen zur Sprache kommen, die sich auch tatsächlich mit dem Thema auskennen, betont Bernd Kasparek.

Gemeinwohlorientierte Stadtteilgesundheitszentren

Wie es richtig gehen kann, zeigt das Stadtteil-Gesundheits-Zentrum Neukölln in Berlin. Dort wird eine Form von Gesundheitsvorsorge praktiziert, die darauf achtet, soziale Faktoren in die Behandlung mit einzubeziehen und psychische und physische Aspekte von Gesundheit zu kombinieren. Auch in Hamburg gibt es meines Wissens nach schon ein ähnliches Projekt, und zwar die Poliklinik Veddel, wo gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen wie Rassismus oder Diskriminierung aufgrund von Gender als soziale Faktoren für Krankheit mitgedacht und in die Behandlung mit einbezogen werden.

Wer den Vortrag jetzt selbst nachhören will, kann sich auf die für Herbst geplante Vertonung der Vorträge in Form einer Podcast-Reihe freuen, die von der Heinrich-Böll-Stiftung auf ihrer Internetseite veröffentlicht wird. Oder sich hier kostenlos für den nächsten Vortrag aus der Reihe mit dem Stichwort Gender am 10. September 2024 mit Gastdozentin Dr. Helen Schwenken anmelden.

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