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Wohin steuert Syrien?

Die Lage in Syrien bleibt komplex: Fragen nach dem Ende von Sanktionen, der Beginn politischer Prozesse und diplomatische Verhandlungen stehen an. Manche Berichterstattungen werden der Vielschichtigkeit der Situation jedoch nicht gerecht.

Wohin steuert Syrien?
Fotograf*in: Ahmed Akacha auf pexels.com

Was passiert derzeit in Syrien? Die Lage ist komplex, und es ist nicht einfach, sie vollständig zu durchschauen. Gleichzeitig sollten wir aber auch nicht übertreiben oder ein verzerrtes Bild zeichnen, wie es manche ausländische Berichterstattung tut. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel der „Tagesschau“ mit dem Titel „Warum sich Christen in Syrien fürchten“. Darin wurden drei Christ*innen befragt, die ihre Ängste und Sorgen äußerten. Diese Ängste sind sicherlich berechtigt, spiegeln jedoch nur einen Teil der Gesamtsituation wider.

Minderheiten wie Christinnen haben ähnliche Sorgen wie alle anderen Syrerinnen: Fragen nach der Zukunft, nach Sicherheit und nach wirtschaftlicher Stabilität beschäftigen die gesamte Bevölkerung. Im genannten Artikel wird dieser Zusammenhang jedoch nicht ausreichend deutlich, sodass der Eindruck entsteht, es ginge vornehmlich um religiöse Minderheiten. Dies zeigt, wie manche Korrespondent*innen ohne tiefere Verbindung zu Syrien nur einzelne Facetten des Gesamtbildes vermitteln.

Gestern habe ich mit meinem Vater telefoniert. Ich fragte ihn, wie er sich nach dem Sturz Assads fühle. Seine Antwort: „Großartig, denn jetzt können wir euch endlich wiedersehen!“ Diese Freude, dass Familien zusammenfinden, ist für viele Eltern unbeschreiblich. Zwar verbessert sich die Lage langsam, doch ist längst nicht alles gut. Die Kosten für Gas zum Kochen oder Diesel zum Heizen bleiben hoch, und viele Familien sind weiterhin auf Hilfe angewiesen.

Die entscheidende Frage lautet: Wann werden humanitäre Hilfen und ein Ende der Sanktionen Syrien endlich erreichen? Zahlreiche Länder knüpfen die Aufhebung von Sanktionen an Bedingungen: Ein politischer Prozess soll gestartet, eine gemeinsame Übergangsregierung gebildet und eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Die HTS (Hayat Tahrir al-Scham), eine einflussreiche Miliz in Syrien, ist dabei ein wichtiger Faktor. Ihr Anführer, al-Dschoulani (al-Shar‘a), scheint nicht mit ganzen politischen Gruppen zusammenarbeiten zu wollen, sondern bevorzugt Verhandlungen mit einzelnen Politiker*innen. Ziel ist es offenbar, die HTS schrittweise in staatliche Strukturen zu integrieren, um dann die Kontrolle über ganze Städte übernehmen zu können.

Vergangenes Wochenende trafen sich in Akaba (Jordanien) die Außenminister mehrerer arabischer Länder (Jordanien, Saudi-Arabien, Irak, Libanon, Ägypten) sowie der Generalsekretär der Arabischen Liga und internationale Partner, darunter die USA, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die EU, um über die Zukunft Syriens zu beraten. Das sogenannte „Arabische Kontaktkomitee“ sprach sich für einen inklusiven, von den UN und der Arabischen Liga begleiteten politischen Übergang aus, der auf der UN-Resolution 2254 basiert. Diese legt einen Fahrplan für einen politischen Prozess fest, der alle gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt, eine Übergangsregierung bildet und schließlich freie, faire, von den UN überwachte Wahlen vorsieht.

Aus Sicht der HTS ist die UN-Resolution 2254 jedoch nicht mehr aktuell, da sie noch auf die Zeit der Assad-Regierung zurückgeht. Die HTS fordert eine Anpassung an die heutige Situation. Arabische und internationale Akteur*innen wollen jedoch an der Resolution festhalten und knüpfen humanitäre Hilfe sowie ein Ende der Sanktionen weiterhin an deren Umsetzung. Es finden viele diplomatische Gespräche und gegenseitige Besuche statt, doch wie sich die Lage weiterentwickelt, ist ungewiss.

Gleichzeitig bereiten sich die Türkei und von ihr unterstützte Milizen offenbar auf eine Militäroperation gegen die von Kurden dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) in Ain al-Arab (Kobanê) im Norden Syriens vor. Ankara strebt einen 30 Kilometer breiten Sicherheitsstreifen entlang der syrisch-türkischen Grenze an und hat erste bauliche Barrieren bereits beseitigt. Während US-Beamt*innen ihre Besorgnis über ein Eindringen der Türkei in die kurdisch kontrollierten Gebiete äußern, sind US-Vermittlungsbemühungen für einen Waffenstillstand offenbar gescheitert, weil die Türkei zentrale Bedingungen nicht akzeptiert hat.

Darüber hinaus weitet Israel offenbar seine Kontrolle über Dörfer im Süden Syriens aus und greift das Land fast täglich an. Am Montag etwa gab es Angriffe auf syrische Militärstützpunkte in der Stadt Tartus. Sieben Einwohner*innen wurde verletzt, es gab außerdem erhebliche Sachschäden.

Die Zukunft Syriens bleibt somit weiterhin ungewiss. Es steht ein komplexes Geflecht aus internen Machtkämpfen, internationalen Interessen, humanitären Fragen und schwierigen Verhandlungen an. Viele Hoffnungen ruhen auf einem politischen Prozess, der tatsächlich alle Syrer*innen einbezieht und ihnen eine friedlichere und stabilere Zukunft ermöglicht.

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Eine kurze Zusammenfassung der Lage

Syrien: Ahmed al-Shar‘a (al-Dschoulani) ruft zu einem „Gesellschaftsvertrag“ zwischen dem Staat und allen Konfessionen aufAhmed al-Sharʿa (al-Dschoulani), Leiter der neuen militärischen Operationsführung in Syrien, fordert nach dem Sturz des Assad-Regimes einen umfassenden Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und allen Konfessionen, um soziale Gerechtigkeit sicherzustellen. Er betont die Einheit Syriens, will keine besonderen Regelungen oder Machtverteilung nach Quoten, die zur Abspaltung führen könnten, und strebt ein institutionelles sowie rechtliches Vorgehen im Interesse des gesamten syrischen Volkes an.

Alle bewaffneten Fraktionen sollen aufgelöst und ihre Kämpfer in das Verteidigungsministerium integriert werden, damit alle dem Gesetz unterstellt sind. Zudem fordert er die Aufhebung der gegen Syrien verhängten Sanktionen, da der Grund für ihre Einführung – das Assad-Regime – nicht mehr bestehe. Die drusische Gemeinschaft bekräftigte ihre Zugehörigkeit zu Syrien.

UN warnt vor verfrühter Rückkehr nach SyrienNach dem Sturz von Baschar al-Assad rät das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) den syrischen Geflüchteten weltweit, vor einer Rückkehr in ihre Heimat Geduld zu bewahren. Es sei zu früh für eine freiwillige Rückkehr, da noch keine Rahmenbedingungen für Sicherheit und Stabilität vorliegen.

Unterdessen diskutiert die Europäische Union ihre Rolle in Syrien. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas betont, dass weder Extremismus noch Russland oder Iran in der zukünftigen Ordnung Syriens Platz haben sollten. Die EU erwägt Sanktionslockerungen, falls die neue syrische Führung klare positive Schritte zeigt. Russische Militärstützpunkte und die Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen in die Regierung sind dabei Kernthemen.

Hochrangige französische Quellen warnen vor einem möglichen Zerfall des syrischen Staates, sollten politische Lösungen zur Wahrung der Einheit und der Institutionen ausbleiben. Zudem sehen sie türkische und israelische Einflussnahmen als Gefahr für die Stabilität.

Deutsche Diplomat*innen führen erste Gespräche mit der Übergangsregierung in Damaskus, um Möglichkeiten für eine diplomatische Präsenz auszuloten und sich für Minderheitenschutz und einen politischen Übergang einzusetzen. Die Bundesregierung beobachtet dabei auch die Rolle von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) wegen ihrer extremistischen Wurzeln genau.

Insgesamt konzentrieren sich die internationalen Bemühungen auf einen inklusiven politischen Prozess, die Verhinderung erneuter extremistischer Aktivitäten sowie die Sicherstellung von Stabilität und Einheit im Nachkriegs-Syrien.

Massengrab mit 100.000 Leichen, die vom syrischen Regime im Umland von Damaskus getötet wurden, entdeckt

Ein syrischer Menschenrechtsaktivist berichtet von einem Massengrab in al-Qatifah, etwa 40 Kilometer nördlich von Damaskus, in dem mindestens 100.000 Leichen liegen sollen. Der Standort ist nach seinen Angaben einer von mindestens fünf solcher Massengräber, in denen Opfer des ehemaligen Assad-Regimes verscharrt wurden, darunter auch ausländische Staatsbürger*innen.

Die Leichen stammten laut diesen Informationen aus Militärkrankenhäusern, in denen Gefangene gefoltert und getötet wurden, bevor man sie durch Geheimdienste und die städtische Bestattungsbehörde zum Massengrab transportierte. Schweres Gerät und Zwangsarbeiter mussten die Gräber ausheben und die Leichen verschwinden lassen. Unabhängige Überprüfungen der Angaben liegen nicht vor.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 sollen Hunderttausende Menschen getötet worden sein. Das ehemalige Assad-Regime wird von Menschenrechtsorganisationen und anderen Staaten für weitreichende Verbrechen verantwortlich gemacht, darunter Massenexekutionen in Gefängnissen. Die Sicherung der Massengrabstellen als Beweismittel für künftige Ermittlungen ist nach Ansicht des Aktivisten dringend erforderlich.

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