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4 Min. Lesezeit Allgemein

Wie syrischstämmige Wahlberechtigte Deutschlands politische Zukunft mitbestimmen

Immer mehr Wähler*innen mit syrischen Wurzeln betreten die Bühne der deutschen Demokratie. Doch über ihr Wahlverhalten gibt es kaum belastbare Daten. Bei der Bundestagswahl 2025 könnte ihr Stimmgewicht erstmals deutlicher spürbar werden.

Wie syrischstämmige Wahlberechtigte Deutschlands politische Zukunft mitbestimmen
Fotograf*in: Wicki58 von Getty Images

Ende 2023 lebten 1,3 Millionen Menschen mit syrischen Wurzeln in Deutschland, darunter 214.000 mit deutschem Pass. Durch das neue Einbürgerungsgesetz, das kürzere Fristen und die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglicht, dürfte die Zahl der Wahlberechtigten mit syrischer Migrationsgeschichte weiter steigen. 2023 erhielten 75.485 Syrer*innen die deutsche Staatsbürgerschaft. Selbst wenn die politische Debatte von strengeren Asylgesetzen und Rückkehrbewegungen geprägt ist, wächst mit jeder Einbürgerung ihr Gewicht im politischen Diskurs Deutschlands.

Denn für viele syrischstämmige Menschen markiert die Einbürgerung das Ende des politischen Abseits: Endlich nicht mehr nur Zaungäste, sondern Mitgestaltende der Demokratie. Obwohl nicht alle politischen Kräfte sie willkommen heißen, ist eines klar: Keine demokratische Partei kann es sich leisten, diese Wähler*innengruppe zu ignorieren. Wer langfristig erfolgreich sein will, muss ihre Anliegen ernst nehmen.

Was bewegt Wähler*innen mit syrischen Wurzeln?

Lebensrealitäten, Erfahrungen und Werte prägen die politische Haltung aller Wähler*innen in Deutschland, auch der syrischstämmigen. Dabei spielen nicht nur kollektive Erfahrungen, sondern auch persönliche Überzeugungen eine Rolle.

Viele Syrer*innen erleben soziale Unsicherheit im Alltag – von beengten Wohnsituationen bis hin zu prekären Arbeitsverhältnissen. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) arbeiten 75 Prozent der syrischen Erwerbstätigen in qualifizierten Berufen – doch oft unterhalb ihres Ausbildungsniveaus. Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und fairen Arbeitsbedingungen sind deshalb für viele von hoher Relevanz und machen eher linke Parteien attraktiv. Mit wirtschaftlichem Aufstieg könnten in Zukunft auch konservativere Parteien stärker in den Fokus rücken.

Erfahrungen mit Diskriminierung sind ein weiterer Faktor, der politische Einstellungen beeinflusst. Laut einer Bertelsmann-Studie haben 35 Prozent der Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland in den letzten zwölf Monaten Diskriminierung erlebt. Besonders bei der Arbeitssuche oder der Wohnungsvergabe berichten besonders muslimische Menschen von Benachteiligungen – weshalb Parteien, die sich für Antidiskriminierung und Minderheitenrechte starkmachen, in dieser Wählergruppe an Vertrauen gewinnen könnten.

Auch Werte und Ideale sind prägend für die politische Orientierung. Die Flucht vor dem Assad-Regime hat zahlreiche Syrerinnen für soziale Gerechtigkeit und eine offene Gesellschaft sensibilisiert – Themen, die insbesondere progressive Parteien aufgreifen können. Gleichzeitig gibt es religiös geprägte Gruppen, darunter konservative Musliminnen und christliche Minderheiten, die traditionellen Familienstrukturen große Bedeutung beimessen. Diese könnten sich stärker zu konservativen Parteien hingezogen fühlen.

Parteien auf dem Prüfstand: Wem vertrauen syrischstämmige Wähler*innen?

Demnach sind unterschiedliche Entwicklungen des Wahlverhaltens möglich – von einer stärkeren Neigung zu linken Parteien bis hin zu konservativen oder themenbezogenen Entscheidungen. Doch ein genauerer Blick zeigt bereits klare Tendenzen auf.

So verdeutlicht eine aktuelle Studie des DeZIM-Instituts, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger als Menschen ohne Migrationsgeschichte Sorgen um ihre materielle Sicherheit, Wohnsituation und Altersversorgung machen. Diese Faktoren deuten darauf hin, dass soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Stabilität für viele Wahlberechtigte mit syrischer Migrationsgeschichte zentrale Themen sind – und warum Parteien, die diese Aspekte priorisieren, besonders von ihrer Unterstützung profitieren.

Befragte mit Bezug zur sogenannten MENA-Region (“Mittlerer Osten” und Nordafrika), zu denen auch syrischstämmige Wählerinnen gehören, nennen soziale Ungleichheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt häufiger als zentrale politische Herausforderungen. In Fragen sozialer Gerechtigkeit gelten SPD und Die Linke als besonders kompetent. Entsprechend sehen viele in der MENA-Gruppe die SPD als stärkste Partei, während auch Die Linke und das BSW hohe Zustimmung erhalten. Die AfD hat in dieser Wählerinnengruppe das geringste Potenzial, obwohl sie gezielt versucht, Menschen mit längerer Migrationsgeschichte für sich zu gewinnen, indem sie diese gegen neuere Migrant*innen ausspielt.

Gleichwohl bedeutet programmatische Nähe nicht automatisch Vertrauen in das politische System. Das Misstrauen in Parteien ist bei vielen Wähler*innen verbreitet, insbesondere bei Wahlberechtigten mit Migrationsgeschichte. Sie fühlen sich vor allem in Wahlkampfzeiten umworben – und danach schnell wieder vergessen.

Härtere Asylgesetze, schwindendes Vertrauen

Eine zunehmend restriktive Migrationspolitik verstärkt dieses Misstrauen. Neben rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien setzen auch weite Teile der Union auf Abschottung und Härte.

Friedrich Merz setzte jüngst seinen „Fünf-Punkte-Plan“ zur Migrationspolitik, der unter anderem Inhaftierungen ausreisepflichtiger Personen vorsah, mit den Stimmen der AfD durch. Mit diesem Manöver hat er die Brandmauer der politischen Mitte zur extremen Rechten eingerissen. Die dazugehörige Gesetzesvorlage, das „Zustrombegrenzungsgesetz“, scheiterte nur zwei Tage später knapp. Solche Strategien untergraben nicht nur das Vertrauen von Migrant*innen in etablierte Parteien, sondern beschädigen auch den Anspruch der Union, Volkspartei zu sein.

Doch nicht nur AfD und CDU/CSU stilisieren Migration als Bedrohung – auch innerhalb der etablierten Regierungsparteien gewinnen restriktive Positionen zunehmend an Einfluss. Für syrischstämmige Menschen wirken diese Maßnahmen wie ein Angriff auf ihre Zukunft. Statt klare Orientierung zu bieten, senden Parteien widersprüchliche Signale: Einerseits betonen sie die Bedeutung der Integration, andererseits verschärfen sie Gesetze, die diese Integration erschweren.

Neue Stimmen, alte Muster: Begreifen Parteien den Wandel?

Wähler*innen mit syrischen Wurzeln sind keine homogene Gruppe, doch ihre politische Präsenz ist nicht mehr zu übersehen. Gleichwohl stehen sie den Parteien oft skeptisch gegenüber, da sie an ihrer Lösungskompetenz zweifeln – ein deutliches Signal an die Politik.

„Ich habe Angst, mich für eine Partei zu entscheiden, und dann erfährt man am nächsten Tag, dass sie ganz andere Absichten hat. Ich glaube, viele Syrer denken wie ich, weil wir das Vertrauen in Politik und Parteien verloren haben“, erklärt Waed Boßler (29), eine Erstwählerin aus Nordheim in Baden-Württemberg.

Auch Ukba Aldjmaideh aus Hannover (30), der erstmals in Deutschland wählt, teilt diese Skepsis: „Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, werden oft als Mittel zur Wählerstimmengewinnung benutzt, statt nachhaltige Lösungen für Integration zu schaffen.“

Syrischstämmige Wähler*innen sind gekommen, um zu bleiben – und um mitzuentscheiden. Parteien müssen ihre realen Sorgen ernst nehmen und greifbare Lösungen bieten: von Arbeitsplatzsicherheit über Wohnraum bis hin zur Angst vor rechtsextremer Gewalt. Ebenso braucht es Plattformen und Formate für Dialog, Teilhabe und politische Sichtbarkeit, zum Beispiel im Austausch mit syrischen Vereinen und Selbstorganisationen.

Denn viele syrischstämmige Wähler*innen möchten trotz mancher Vorbehalte mitgestalten und von ihren neuen demokratischen Rechten Gebrauch machen. Waed Boßler sieht die anstehende Bundestagswahl mehr als eine Pflicht: „Es ist ermutigend für uns, am politischen Prozess teilzunehmen und zu wissen, dass jede Stimme zählt. Das ist für uns ein wichtiger Schritt, um Veränderungen und die Vielfalt der Meinungen in unserer Gesellschaft zu repräsentieren.“

Demokratische Parteien müssen die Möglichkeiten erkennen, die sich aus dem wachsenden politischen Engagement von Wähler*innen mit syrischen Wurzeln ergeben. Bleibt diese Chance ungenutzt, wäre das eine vertane Gelegenheit – nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Demokratie.

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