Ich bin berufliche Pendlerin und deshalb oft stundenlang in Zügen unterwegs. Meistens höre ich, um mir die Zeit zu vertreiben, Musik oder einen Podcast. Ab und zu kommt es aber auch vor, dass ich lieber den Klängen meiner Umgebung lauschen möchte und meine Kopfhörer in der Tasche bleiben. Und da, irgendwo zwischen den Durchsagen der Zugbegleiter*innen, Kindergeschrei und wild durcheinander sprechenden Menschen, höre ich etwas, das sofort meinen Brustkorb enger werden lässt. Den Klang einer Sprache, die ich zu selten gesprochen habe und die deshalb nur noch auf der Spitze meiner Zunge verweilt. Angestrengt versuche ich, alle Störgeräusche um mich herum auszublenden und die Sprachmelodie zu isolieren.
Ich verstehe nicht mehr alles und meine innere Stimme redet mir gut zu; es muss daran liegen, dass ich müde bin. Aber kann denn das Herz eines müden Menschen noch so brennen, wie meines es in diesem Augenblick tut? Ganz in Gedanken versunken, merke ich gar nicht, dass der Klang der Sprache immer leiser wird, bis er schließlich ganz in der Nacht verschwindet. Aus den Ohren, aus dem Sinn? Keineswegs, denn das Feuer wird leise vor sich hin lodern, bis der nächste Kanister mit Benzin kommt, der die Flammen in die Höhe schallen lässt.
"Mir ist die kurdische Sprache langsam, aber sicher aus den Händen geglitten"
Als ich ein kleines Kind war, fanden sich meine Eltern vor einer schwierigen Entscheidung wieder. „Du hast deine Sprache, ich habe meine und das Land, in dem wir leben, hat seine eigene Sprache. Was nun?“ So, oder so ähnlich stelle ich mir das Gespräch meiner Eltern vor, als eine Entscheidung darüber getroffen werden musste, welche Sprachen ich lernen sollte.
Zum Glück machte ich es meinen Eltern leicht, denn während ich liebend gerne den ganzen langen Tag mit allen Mitmenschen, unbeschadet davon, dass mich nicht jeder verstehen konnte, Kurdisch gesprochen habe, sah es mit Russisch ziemlich mau aus. Meine Mutter erzählt mir noch heute, wie ich mich bis zu ihrer absoluten Verzweiflung hin konsequent geweigert habe Russisch zu sprechen, obwohl ich sehr wohl alles verstanden habe.
Diese Lücke sollte sich allerdings später in meinem Leben schließen, als ich taktisch gewählt auf ein Gymnasium gekommen bin, an dem man Russisch als Fremdsprache lernen konnte. Da ich bereits ein sehr gutes Verständnis der Sprache mitbrachte, hatte ich auch alsbald das Sprechen erlernt, sodass am Ende alle zufrieden waren. Dagegen ist mir die kurdische Sprache langsam, aber sicher aus den Händen geglitten; als ich es gemerkt habe, war es schon zu spät.
"Kulturelle Verbindungen entstehen in erster Linie durch Sprache"
Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich besser Kurdisch als Deutsch gesprochen habe. Das hat meine Eltern beunruhigt, denn für das Leben in Deutschland war dieser Umstand eher hinderlich.
So kam es, dass mein Vater von einem Tag auf den anderen nur noch Deutsch mit mir gesprochen hat, um zu verhindern, dass ich später im Leben Probleme bekomme. Ich nehme es ihm nicht übel, denn für den Moment war die Entscheidung sicher die richtige – jedoch begann mit ihr auch der schleichende Verlust eines Stückes meiner Identität, der mich bis heute plagt.
Kulturelle Verbindungen entstehen in erster Linie durch Sprache. Wenn sich in Deutschland zwei Ausländer*innen begegnen, freuen sie sich meistens ganz besonders darüber, wieder eine gemeinsame Sprache zu haben. Mir wird diese Freude verwehrt, denn heute verstehe ich mehr, als ich spreche. Dies hat zur Folge, dass man mit mir oft eine Mitte zwischen schlechtem Deutsch und schlechtem Kurdisch finden muss und Details in der Übersetzung verloren gehen. „Lost in translation“, wie man so schön sagt.
Es ist schnell frustrierend, wenn man die tiefere Bedeutung und die Nuancen einer Konversation nicht vollständig erfassen oder ausdrücken kann. Die Sprache ist nicht nur ein Werkzeug zur Kommunikation, sondern auch ein Träger von Kultur, Geschichte und Identität. Wenn ich also versuche, mich auszudrücken, stoße ich oft an die Grenzen meines Wortschatzes und meiner Ausdrucksfähigkeit. Das führt dazu, dass ich mich nicht vollständig verstanden fühle und auch meine Gesprächspartner oft nur einen Teil meiner Gedanken und Gefühle erfassen können.
"Viele Aspekte der kurdischen Kultur und Geschichte wurden mündlich weitergegeben"
Auch die Schwierigkeit, Kurdisch zu erlernen und zu verbessern, verschärft dieses Problem. Da die Sprache kaum in Büchern festgehalten wurde, gibt es nur wenige schriftliche Ressourcen, auf die ich zum Lernen zurückgreifen kann. Viele Aspekte der kurdischen Kultur und Geschichte wurden mündlich weitergegeben, und ohne Zugang zu umfangreichen schriftlichen Materialien ist es schwer, meine Sprachkenntnisse systematisch zu erweitern.
Diese Situation wird durch politische und soziale Umstände in den Regionen, in denen Kurdisch gesprochen wird, weiter kompliziert. Historisch bedingte Unterdrückung und Marginalisierung der kurdischen Kultur und Sprache haben dazu geführt, dass viele Generationen keine formale Schulbildung in ihrer Muttersprache genießen konnten. Daher existiert anders als bei verbreiteteren Sprachen kaum gesicherte Lektüre über die Regeln und Eigenheiten der kurdischen Sprache.
Hinzu kommt, dass Kurdisch eine Vielzahl von Dialekten umfasst, die teilweise stark voneinander abweichen. Dies führt dazu, dass Lernmaterialien, die auf einem spezifischen Dialekt basieren, für Sprecher anderer Dialekte nur begrenzt nützlich sind. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass das Lernen und Verbessern der eigenen Sprachkenntnisse eine komplexe und oft frustrierende Aufgabe sein kann, für die man im Alltag ohnehin selten bis kaum Zeit findet.
Zwar spreche ich auch heute noch zahlreiche Fremdsprachen auf gehobenem Niveau und habe mein Talent dafür sicherlich meinen stets bemühten Eltern zu verdanken – aber der Schmerz des Verlustes der kurdischen Sprache wird mich vermutlich noch einige Zeit begleiten. Ich hoffe, dass ich die Lücken eines Tages wieder schließen kann. Bis dahin zähle ich auf die Fähigkeiten der anderen Menschen innerhalb der kurdischen Diaspora, welchen es sicher gelingt, unsere Sprache weiterzugeben und am Leben zu halten.