Gestern habe ich wie immer den Newsletter geschrieben, der heute Morgen veröffentlicht werden sollte. Doch als ich nach Hause kam, gab es Berichte, dass Ahmed Al-Sharaa endlich eine Rede an die Syrer*innen halten würde. Ich habe gewartet, doch leider kam sie nicht – nur ein paar Sätze aus seiner Ansprache wurden über Telegram veröffentlicht. Das sorgte für Wut und Enttäuschung bei vielen Syrer*innen, die sich fragten, warum ausgerechnet Telegram als Hauptplattform für offizielle Mitteilungen genutzt wird und welche Beziehung HTS zu dieser Plattform hat. Heute Morgen wurde das Video dann doch veröffentlicht, in dem Al-Sharaa seine Siegesrede hält und seine Pläne für die Zukunft Syriens vorstellt.
Am gestrigen Abend fand in Damaskus die sogenannte „Siegeskonferenz“ statt, bei der Vertreter der militärischen Fraktionen anwesend waren, die maßgeblich am Sturz des vorherigen Regimes beteiligt waren. Zum Abschluss der Konferenz gab Oberst Hassan Abdel Ghani, Sprecher der militärischen Operationsverwaltung, bekannt, dass Ahmed Al-Sharaa (ehemals bekannt als Abu Mohammed Al-Jolani und Anführer der HTS) zum Übergangspräsidenten Syriens ernannt wurde. Er erhielt das Mandat, die Präsidentschaft zu übernehmen und das Land auf internationaler Ebene zu vertreten. Die Konferenz wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten und nicht medial begleitet.
Während der Veranstaltung wurden mehrere wichtige Beschlüsse gefasst:
Aufhebung der Verfassung von 2012 und aller Sondergesetze.
Auflösung des Parlaments (Volksrat) und aller mit dem alten Regime verbundenen Ausschüsse.
Auflösung der alten Armee und Aufbau einer neuen, national ausgerichteten Streitkraft.
Abschaffung aller Sicherheitsorgane und Gründung einer neuen nationalen Sicherheitsinstitution.
Auflösung der Baath-Partei und aller ihr angegliederten Parteien und Organisationen.
Eingliederung aller militärischen Fraktionen in staatliche Institutionen.
Befugnis für Al-Sharaa, einen provisorischen Legislativrat zu bilden, bis eine neue Verfassung verabschiedet wird.
In seiner Rede, die von SANA und dem Telegram-Kanal der militärischen Operationsverwaltung verbreitet wurde, erklärte Al-Sharaa, dass die obersten Prioritäten nun darin bestehen, das Machtvakuum zu füllen, den gesellschaftlichen Frieden zu sichern, staatliche Institutionen wieder aufzubauen, eine nachhaltige Wirtschaft zu schaffen und Syriens internationale Position zu stärken.
Der Verkündung war ein großes Treffen mit den militärischen Fraktionen im Präsidentenpalast vorausgegangen, bei dem die Auflösung der Fraktionen, die Neuaufstellung der Armee und die staatliche Neuordnung diskutiert wurden.
Die Ernennung von Al-Sharaa zum Übergangspräsidenten und sein Auftrag, einen provisorischen Legislativrat zu bilden, der eine vorläufige Verfassungserklärung verabschieden soll, sind aktuell die einzigen politischen Schritte, die Syrien angesichts der momentanen Lage hat. Die Siegeskonferenz sendet jedoch auch ein starkes Signal, dass die neue Führung viele bewaffnete Gruppen davon überzeugen konnte, Teil der neuen Armee zu werden.
Trotzdem gibt es noch Herausforderungen:
Nicht alle Milizen sind integriert, darunter die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und einige drusische Einheiten.
Kommunikationsprobleme mit der Bevölkerung – die Art und Weise, wie Informationen über Telegram verbreitet wurden, war katastrophal. Besonders für viele Syrer*innen, die der neuen Führung ohnehin misstrauen, verstärkt dies die Skepsis.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen: Wahrscheinlich wird Al-Sharaa heute offiziell eine Ansprache als neuer Präsident an die syrische Bevölkerung halten. Ich bin nicht sicher, ob es stimmt, denn die Information kam aus einer Telegram-Gruppe, die der HTS nahesteht. Wenn das doch richtig ist, zeigt es, dass die neue Regierung lernfähig ist und bereit ist, auf Fehler und Kritik zu reagieren. Hoffentlich bleibt das so – denn genau das wünschen sich die Syrer*innen: eine Regierung, die zuhört und handelt, anstatt über sie hinweg zu entscheiden.
Eine kurze Zusammenfassung der Lage:
SDF und syrische Regierung einigen sich auf Einheit Syriens
SDF-Kommandeur Mazloum Abdi erklärte, dass sich die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF/QSD) und die neue syrische Regierung auf die Wahrung der territorialen Einheit und die Integration der SDF in die zukünftige syrische Armee verständigt haben.
Türkei will mit Partnern Stabilität in Syrien sichern
- Außenminister Hakan Fidan betonte die Bedeutung der 911 km langen Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Ankara arbeitet mit regionalen Akteuren wie Saudi-Arabien, Katar, Ägypten und Jordanien zusammen, um den Wiederaufbau Syriens zu fördern. Die Türkei hofft zudem auf weitere EU-Sanktionslockerungen.
Die türkischen Exporte nach Syrien stiegen im Januar 2025 um 35,5 % auf 219 Millionen Dollar. Nach Senkung der Zölle zwischen beiden Ländern erhöhte sich der Warenverkehr deutlich.
Außerdem bestätigte Fidan hinsichtlich der syrischen Armee, dass Ankara die von ihr unterstützten Rebellen des Syrischen Nationalen Heeres (SNA) angewiesen hat, sich der syrischen Regierung unterzuordnen. Ähnliche Schritte werden für Faktionen in Suwaida und Daraa angestrebt.
Fidan betonte Meinungsverschiedenheiten mit den USA, insbesondere in Bezug auf die Unterstützung der Kurdenmiliz YPG. Sein amerikanischer Amtskollege Marco Rubio forderte eine inklusive Übergangsregierung in Syrien.
Rückkehrer*innen nach Syrien
Laut UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi planen rund 30 % der syrischen Geflüchteten in den umliegenden Ländern, 2025 nach Syrien zurückzukehren. Diese Einschätzung basiert auf einer UN-Umfrage nach dem Sturz des Assad-Regimes. Bereits 200.000 Geflüchtete sind seitdem zurückgekehrt, zusätzlich zu den 300.000 Rückkehrer*innen aus dem Libanon, die vor dem Israel-Hisbollah-Krieg flohen.
Eine Umfrage unter Syrer*innen in Schweden ergab, dass 46 % dauerhaft bleiben möchten. 26 % erwägen eine Rückkehr bei vollständiger Stabilität, während 9 % wirtschaftliche oder rechtliche Hindernisse für eine Rückkehr sehen.
Italienischer Außenminister: Vertrauen in Syriens neue Führung essenziell
Antonio Tajani betonte Italiens Unterstützung für die neue syrische Regierung und rief zur vorsichtigen Annäherung auf. Er lud den syrischen Außenminister nach Rom ein, um Kooperationen für die Stabilität Syriens und der Region zu besprechen.
In Rom trafen sich zudem internationale Organisationen und Akademiker*innen, um über den Schutz syrischer Kulturgüter nach dem Sturz Assads zu beraten. Eine globale Taskforce soll bald in Syrien tätig werden.
EU beschleunigt Sanktionslockerungen bei positiven Entwicklungen
EU-Syrien-Botschafter Michael Ohnmacht äußerte, dass schnellere Lockerung der Sanktionen erfolgen könnten, falls positive Fortschritte sichtbar werden. Zudem ruft die EU die Nachbarländer Syriens auf, zur Stabilisierung des Landes beizutragen. Frühzeitige Wiederaufbauprojekte seien von den Sanktionen unabhängig.
Die deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze bestätigte, dass die EU eine Schlüsselentscheidung zur Aufhebung von Sanktionen getroffen hat. Dies erleichtert Investitionen in Energie- und Infrastrukturprojekte.
Rotes Kreuz: Über 35.000 Suchanfragen nach vermissten Syrer*innen
Laut Sarah Avrion, Vertreterin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), haben syrische Familien über 35.000 Anträge auf die Suche nach vermissten Angehörigen gestellt, darunter 3.000 in Jordanien. Die Organisation arbeitet mit der neuen syrischen Regierung zusammen, um Identitäten zu klären und Massengräber zu verwalten.
Führender ISIS-Kommandeur in Daraa gefasst
Lokale Kämpfer haben den ISIS-Kommandeur Ataa al-Hariri in Nord-Daraa gefangen genommen. Er wurde in einem Hinterhalt zwischen Kafr Shams und As-Sanamayn festgesetzt.
Pläne der syrischen Regierung zur Infrastruktur und Wirtschaft des Landes
Das syrische Verkehrsministerium verhandelt mit der AOG Investment Group über den Bau eines neuen Hafens und die Modernisierung des Schienennetzes.
Die syrische Übergangsregierung hat die „Allgemeine Außenhandelsgesellschaft“ abgeschafft. Die Wirtschaftspolitik wird nun direkt vom Wirtschaftsministerium gelenkt.
89 % der Haushalte in Nordostsyrien auf Hilfe angewiesen
Laut einer Studie von REACH benötigen 89 % der Familien im Nordosten Syriens humanitäre Hilfe. Die größten Defizite bestehen in Bildung (46 %), Ernährung (45 %) und Wohnraum (51 %). Binnenvertriebene sind besonders betroffen.
UN: Beweise für Assad-Regime-Verbrechen dokumentieren Verbrechen
Laut Robert Petit von der UN-Untersuchungsbehörde hat das gestürzte Assad-Regime Beweise für seine Verbrechen zerstört. Dennoch existiert eine große Menge an Dokumentationen, die für künftige Strafverfahren genutzt werden können.
Israel bleibt nach Assad-Sturz auf dem Berg Hermon stationiert
Israels Verteidigungsminister Yisrael Katz kündigte an, dass israelische Truppen strategische Positionen auf dem Berg Hermon behalten werden. Die UNO forderte Israel auf, sich aus dem entmilitarisierten Gebiet zurückzuziehen.
Universität in Damaskus verbessert internationales Ranking
Die Universität Damaskus stieg von Platz 2424 auf Platz 617 in der globalen Webometrics-Rangliste 2025.
Iran bestätigt Kontakt mit neuer syrischer Regierung
Der iranische Vize-Außenminister Majid Takht-Ravanchi gab bekannt, dass der Iran über Mittelsmänner mit Syriens neuer Führung kommuniziert.
Delegationsbesuch der Russischen Föderation in Damaskus: Gespräche über Syriens Zukunft
Unter der Leitung von Michail Bogdanow, stellvertretender Außenminister Russlands, traf eine russische Delegation mit der neuen syrischen Verwaltung in Damaskus zusammen. Im Mittelpunkt der Gespräche standen grundlegende Fragen wie die Wahrung der syrischen Souveränität und die territoriale Einheit des Landes.
Die russische Seite bekräftigte ihre Unterstützung für die laufenden positiven Entwicklungen in Syrien. Dabei wurde die Rolle Russlands bei der Wiederherstellung des Vertrauens der syrischen Bevölkerung hervorgehoben, insbesondere durch konkrete Maßnahmen wie Entschädigungsleistungen, den Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholungsprogramme.
Ein weiteres zentrales Thema waren Mechanismen der Übergangsjustiz, die darauf abzielen, Verantwortlichkeit sicherzustellen und Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges unter dem Assad-Regime zu gewährleisten sollen.
Die neue syrische Verwaltung betonte ihr Bekenntnis zu einer kooperativen und prinzipientreuen Zusammenarbeit mit allen relevanten Akteuren, um eine Zukunft für Syrien zu schaffen, die auf Gerechtigkeit, Würde und Souveränität basiert.
Zudem unterstrich die Verwaltung, dass eine Normalisierung der Beziehungen eine Aufarbeitung vergangener Fehler erfordert, den Willen der syrischen Bevölkerung respektieren und deren Interessen in den Mittelpunkt stellen müsse.
EU erwägt Lockerung der Sanktionen gegen Syrien
Die EU prüft eine Lockerung der Sanktionen im Bank- und Investitionssektor Syriens, um den Wiederaufbau des Landes zu unterstützen, erklärte EU-Kommissionssprecher Anwar El-Anouni.
Frankreichs Außenminister Jean-Noël Barrot bestätigte, dass bereits erste Sanktionen gelockert wurden. Zudem erwägt die EU Erleichterungen in den Bereichen Energie und Transport, während weiterhin Druck auf die neue syrische Führung ausgeübt wird.
Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Kaja Kallas betonte einen schrittweisen Ansatz, abhängig von Reformen in Syrien. Einige EU-Staaten bleiben jedoch skeptisch, insbesondere wegen der Verbindung der neuen Regierung zu HTS.
Das syrische Außenministerium begrüßte die vorübergehende Lockerung als Schritt zur wirtschaftlichen Erholung und forderte eine vollständige Aufhebung der Sanktionen. Dennoch bleiben Restriktionen gegen die neue Führung und frühere Assad-Funktionäre bestehen.
Al-Qaida-Ableger „Hurras ad-Din“ löst sich auf
Die dschihadistische Gruppe Hurras ad-Din, ein Al-Qaida-Zweig in Syrien, gab am 28. Januar 2025 die Selbstauflösung bekannt. Laut offiziellem Statement folgte die Entscheidung einer Anweisung der Al-Qaida-Führung und wurde als Anerkennung des „Sieges der syrischen Revolution“ sowie des Sturzes von Baschar al-Assad dargestellt.
Die 2018 gegründete Gruppe entstand aus Splitterfraktionen von Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Sie geriet unter massiven Druck durch US-Luftschläge und HTS-Operationen, die zahlreiche Anführer ausschalteten.
Die USA und die EU hatten Hurras ad-Din als Terrororganisation eingestuft und Kopfgelder auf ihre Anführer ausgesetzt. Mehrere gezielte US-Drohnenangriffe trafen hochrangige Mitglieder der Gruppe.
Mit der Auflösung von Hurras ad-Din endet eine Ära extremistischer Dschihad-Gruppen in Syrien, während der Wiederaufbau des Landes in eine neue Phase tritt.