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Welche Zusammenhänge haben Macht, Widerstand und Flucht?

Im Newsletter „migrantisch gelesen“ schreibt Omid über Neues aus der Welt der Literatur. Hier gibt es seine Empfehlungen der Woche: Bücher von Amir Hassan Cheheltan, Saša Stanišić und mehr.

Welche Zusammenhänge haben Macht, Widerstand und Flucht?
Fotograf*in: Kelly Sikkema auf Unsplash

Hallo, mein Name ist Omid Rezaee, freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur dritten Ausgabe von „migrantisch gelesen“!

Heute, vor genau 71 Jahren, verließ Schah Mohammad Reza Pahlavi, der letzte Monarch Irans, das Land. Drei Tage später, am 19. August 1953, wurde der beim Volk beliebte Premierminister Mohammad Mossadegh durch einen von den USA und Großbritannien orchestrierten Putsch gestürzt. Der Schah kehrte am 23. August zurück und erklärte gegenüber dem zuständigen US-amerikanischen Agenten: „Meine Herrschaft verdanke ich Gott, meinem Volk, meiner Armee – und Ihnen.“ Ein bekannter Witz im Iran besagt jedoch, dass die Reihenfolge eigentlich umgekehrt sei.

So umstritten der Putsch vom 19. August auch sein mag, niemand kann seine Bedeutung für die Wende des Schicksals Irans leugnen. Eine der Konsequenzen: Er bietet vielen politischen Akteur*innen im Iran die perfekte Ausrede, sich in ihrer Geschichte als bedingungsloses Opfer zu inszenieren. Für die Misere des Landes, die wirtschaftlichen Katastrophen und das ewige Scheitern im Streben nach Demokratie und Freiheit seien die Briten und Amerikaner verantwortlich.

Während der Putsch zweifellos eine massive Einmischung in die inneren Angelegenheiten Irans darstellte, wäre der Plan jedoch ohne die Unterstützung bestimmter politischer Gruppen im Land nicht aufgegangen. Diese Sichtweise wird selten von Intellektuellen und Politiker*innen im Iran vertreten. Einer der wenigen, der dies offen anspricht, ist Amir Hassan Cheheltan. Der im Iran weitgehend zensierte und verbotene Autor hat seine Trilogie zur zeitgenössischen Geschichte Irans in Deutschland veröffentlicht. „Teheran, Stadt ohne Himmel“, „Teheran, Revolutionsstraße“ und „Teheran, Apokalypse“ bieten einen tiefgründigen und gleichzeitig unterhaltsamen Blick auf die jüngere iranische Geschichte.

Tipps der Woche

Die Teheran-TrilogieAmir Hassan Cheheltans Teheran-Trilogie („Teheran, Stadt ohne Himmel“, „Teheran, Revolutionsstraße“, „Teheran, Apokalypse“) bietet ein kraftvolles literarisches Panorama des Iran im 20. Jahrhundert. In packenden Episoden und durch lebendige Charaktere schildert Cheheltan die widersprüchliche Geschichte einer Nation, die zwischen Modernisierungsträumen und den Schrecken totalitärer Regime gefangen ist. Seine Trilogie überzeugt durch atmosphärische Dichte und eine schonungslose, zugleich poetische Auseinandersetzung mit den Traumata Teherans. Ein unverzichtbares Werk für das Verständnis des modernen Iran.

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

Saša Stanišić neustes Buch steht bereits seit zehn Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Schon der Titel lässt erahnen, mit welchem feinen Humor Stanišić selbst die ernsthaftesten Themen behandelt. Zur Erinnerung: 2019 wurde er für „Herkunft“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zwar dreht sich sein neues Buch nicht direkt um die Frage der Identität, doch bereits das erste Kapitel trägt den Titel „Die neue Heimat“. Ganz losgelöst von diesem Thema sind die Geschichten also auch diesmal nicht.

Saša Stanišićs Erzählband changiert spielerisch zwischen Realität und Fiktion, Vergangenheit und Zukunft. In zwölf Geschichten entwirft Stanišić alternative Lebenswege und Szenarien, die von einer Kindheit in Heidelberg bis zu imaginären Reisen nach Helgoland reichen. Mit viel Witz und literarischer Raffinesse erkundet er das menschliche Streben nach einem besseren Leben, ohne dabei den scharfsinnigen Blick für die Härten des Alltags zu verlieren. Ein faszinierendes, komplexes Werk voller Tiefe und Humor.

Komm dahin, wo es still ist

Ich muss gestehen: In meinem Kopf unterscheide ich migrantisierte Menschen immer in zwei große Kategorien: diejenigen, die als Erwachsene immigriert sind, und diejenigen, die im Aufnahmeland geboren oder aufgewachsen sind. Für mich gehen die Lebensrealitäten dieser beiden Gruppen oft weit auseinander. Genau dieser Vorstellung treten Vanessa Vu und Ahmad Katlesh in ihrem Buch entgegen. In ihrem Briefwechsel erkunden der syrische Schriftsteller und Podcaster Katlesh, der 2017 im Alter von 29 Jahren nach Deutschland gekommen ist, und Vu, die in Deutschland geborene und aufgewachsene Journalistin vietnamesischer Herkunft, ihre gemeinsamen Erfahrungen.

„Komm dahin, wo es still ist“ ist ein intensiver Briefwechsel zwischen dem syrischen Schriftsteller Ahmad Katlesh und der deutschen Journalistin Vanessa Vu. In ihren E-Mails reflektieren sie über ihre unterschiedlichen Migrationshintergründe, geteilte Erfahrungen von Flucht und Rassismus und die Suche nach Heimat. Poetisch und eindringlich schreiben sie über die Brüche in ihren Lebenswegen, die durch Krieg und Migration entstanden sind, und schaffen so ein bewegendes Zeugnis über das Menschsein im Kontext globaler Krisen.

Neben der analogen Lektüre hat mich in den letzten Wochen besonders die Textreihe Annäherung an Gottbeschäftigt, die zu tiefgehenden Reflexionen über das Göttliche einlädt. Besonders beeindruckend fand ich den Beitrag von Avi Bolotinsky, einer israelischen Autorin in Berlin. Mit eindringlicher Atmosphäre beschreibt sie das Leben eines jungen Soldaten am Berg Tabor, wo spirituelle und reale Welten aufeinandertreffen. Bolotinsky fängt die Spannung zwischen der idyllischen Landschaft und der militärischen Realität meisterhaft ein und lässt die Leser*innen die spirituelle Schwere dieses Ortes spüren. Ein literarisches Highlight, das in seiner Kürze zum Nachdenken über den Glauben und das Menschsein anregt.

Hast du Gedanken, Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge, die dir beim Lesen dieses Newsletters kamen oder die du gerne im Newsletter sehen würdest?

Schreib mir gerne eine Mail an omid@kohero-magazin.de

Bis bald und liebe Grüße,

Dein Omid

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