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Welche Rolle spielt Syriens Vergangenheit beim Wiederaufbau?

Wie geht es in Syrien weiter? Die Bewohner*innen des ethnisch und religiös vielfältigen Landes stehen vor der Herausforderung, gemeinsam eine Zukunft aufzubauen – wobei ein Blick in die Vergangenheit eine wichtige Rolle spielt.

Welche Rolle spielt Syriens Vergangenheit beim Wiederaufbau?
Fotograf*in: Samer Daboul auf pexels.com

Seit dem 8. Dezember gibt es große Diskussionen über die Zukunft Syriens, doch auch über die Vergangenheit des Landes.

Als Syrer*innen blicken wir sehr intensiv auf die Vergangenheit und analysieren, was genau passiert ist, warum ein diktatorisches System entstanden ist, welche Rolle die Armee und die Baath-Partei gespielt haben und wie die Minderheiten letztlich zugelassen haben, dass ein neues diktatorisches Regierungssystem errichtet wurde, das die Mehrheit unterdrückt. Besonders nach dem 8. Dezember stellt sich die Frage, was geschehen ist und wie wir an den Punkt gelangt sind, an dem wir uns heute befinden.

Dafür gibt es eine zweite Perspektive: Einige sagen, die Sunnit*innen hätten in Syrien besonders stark durch den Krieg von Assad gelitten. Sie hätten gegen das Assad-Regime und dessen verbündete Milizen, zum Beispiel die HTS, gekämpft. Dabei seien viele sunnitische Wohngebiete zerstört und viele Sunnit*innen getötet worden – „mehr noch als Angehörige aller anderer Minderheiten“, wie ein Syrer mir sagte. Deshalb solle man den Schmerz der sunnitischen Bevölkerung anerkennen, nur so könne er irgendwann überwunden werden. Darauf aufbauend könne ein neues System entstehen, in dem die sunnitische Mehrheit ihren gerechten Platz erhält.

Auch wenn Sunnit*innen landesweit in der Mehrheit sind, gibt es Städte, in denen sie tatsächlich in der Minderheit sind. Hama und Idlib zum Beispiel haben – wenn man nur die Kernstädte betrachtet – historisch gesehen stark unter der Assad-Herrschaft gelitten. Eines der zahlreichen Beispiele ist das Massaker in Hama 1982, bei dem Zehntausende getötet wurden. Auch Idlib war lange benachteiligt, genauso wie die kurdisch bewohnten Gebiete im Nordosten. Das alles beeinflusst die Gegenwart und Zukunft: Die Sunnit*innen haben einen sehr hohen Preis gezahlt, um das Assad-Regime zu bekämpfen.

Kolonialzeit und spätere Machtübernahme der Baath-Partei

Außerdem sollten wir einen Blick auf die historische Entwicklung werfen: wie Syrien nach der französischen Kolonialzeit aufgebaut wurde und wie Frankreich damals die Armee aus Angehörigen von Minderheiten zusammensetzte.

Nachdem die Baath-Partei in den 1960er-Jahren die Kontrolle übernommen hatte, wurden systematisch viele sunnitische Generäle entlassen und mehr alawitische Generäle gefördert. Dadurch konnte Assad — mithilfe alawitischer Offiziere — die Armee kontrollieren, da sie ihm gegenüber loyal waren. Andere Beobachter*innen sagen jedoch, dass Assad die Alawit*innen nur instrumentalisiert habe. Es habe kein „alawitisches“ politisches System gegeben, sondern vielmehr eine Familiendiktatur, die von allen Unterstützer*innen, egal aus welcher Region, welchem Glauben oder welchem Hintergrund, Loyalität verlangte. Schließlich gab es auch sunnitische Generäle und hochrangige Baath-Funktionäre, die Assad unterstützten.

Ebenso haben damals wohlhabende sunnitische Eliten (sunnitische Bourgeoisie) in Damaskus und Aleppo Assad unterstützt. Daher, so die Argumentation, gehe es nicht ausschließlich darum, welche Minder- oder Mehrheit die andere unterdrückt hat, sondern um ein diktatorisches System, das Minderheiten nur für seine Zwecke benutzt habe.

Warum ist dieser Rückblick auf unterschiedliche Perspektiven der Vergangenheit so wichtig?

Es geht um die Frage, wie die Zukunft Syriens aussehen soll. Einige fordern ein „sunnitisches“ Regierungssystem, andere halten das für Unsinn, da „die Sunnit*innen“ in sich keine homogene Gruppe darstellen. Sunnit*innen in Damaskus unterscheiden sich stark von jenen in Aleppo, und die Sunnit*innen in den Dörfern von Idlib sind wiederum ganz anders als die in Homs. In Syrien existiert eine große Vielfalt; ein gutes Beispiel dafür ist Homs Stadt, wo verschiedene Viertel von unterschiedlichen Gruppen geprägt sind: sunnitische, alawitische, aber auch christliche.

Doch einige Minderheiten fürchten sich davor, dass ihnen ohne Assad kein Schutz vor Repression durch die sunnitische Mehrheit bleibt, weil Assad sie jahrzehntelang in eine Abhängigkeit gedrängt hat: Entweder ihr unterstützt mich, oder ich lasse euch von den Minderheitengruppen töten.

Hält die syrische Gesellschaft zusammen?

Glücklicherweise ist nach dem 8. Dezember nicht das eingetreten, was die Assad-Propaganda behauptete: dass ohne Assad ein „Blutbad“ zwischen den verschiedenen Gruppen stattfinden würde. Die syrische Gesellschaft hat gezeigt, dass ein Zusammenleben weiterhin möglich ist und man gemeinsam das Land wiederaufbauen kann. Doch die Frage ist, wie offen die neuen Machthaber*innen in Syrien wirklich sind. Es gibt zwar Signale, dass man ein gemeinsames Syrien schaffen will, in dem auch die Minderheiten mitregieren.

Gleichzeitig wird aber deutlich, dass keine Gruppe allein regieren kann. Deshalb ist gerade eine Phase angebrochen, in der Syrer*innen intensiv miteinander diskutieren. Nach 54 Jahren der Unterdrückung durch das Assad-Regime können sie plötzlich ihre Meinung frei äußern. Und vieles davon landet unmittelbar in den (sozialen) Medien, was zusätzliche Spannungen erzeugt.

Diese Offenheit ist notwendig, um die gegenseitigen Wunden anzuerkennen. Allerdings birgt sie auch Risiken: Missverständnisse können zu neuer Gewalt führen. Einige haben Angst, es könnte erneut zu bewaffneten Konflikten kommen, bei denen bestimmte Gruppen um ihr Überleben bangen. Auch kursieren in den sozialen Medien zahlreiche Geschichten und Gerüchte, die Misstrauen säen.

Beispielsweise ging kürzlich das Gerücht um, in einer ehemals christlichen Stadt habe jemand öffentlich zum Islam aufgerufen und sei daraufhin von einheimischen Christ*innen festgenommen und geschlagen worden. Die Polizei nahm ihn später mit. Sofort wurde verbreitet, dass dahinter die HTS oder bestimmte neue Machthabende stünden. Andere meinten jedoch, es handele sich um einen geistig verwirrten Einzeltäter, der ohne jegliche Unterstützung handelte.

Vorfälle wie dieser zeigen, wie sehr sich die Syrer*innen immer noch voreinander fürchten. Obwohl man schon große Schritte gemacht hat und bewiesen wurde, dass ein Zusammenleben grundsätzlich möglich ist, besteht weiterhin Angst und ein Mangel an Vertrauen. Dieses Vertrauen muss erst wieder wachsen. Dazu gehört, den Schmerz aller Seiten anzuerkennen und ihre Ängste ernst zu nehmen. Erst dann kann man mit der Wut, die in der Gesellschaft vorhanden ist, konstruktiv umgehen und gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen.

Konstruktiver Streit bringt Syrien voran

Das erfordert viel Kommunikation, Diskussion und sogar Streit – aber einen konstruktiven Streit, in dem alles auf den Tisch kommt, um die alten Wunden zu behandeln. In dieser Hinsicht sind die sozialen Medien Fluch und Segen zugleich: Sie bieten Raum für den Austausch, können aber auch falsche Informationen oder Panik verbreiten. Gerade Syrer*innen im Exil leisten hier viel, indem sie Foren und Treffen organisieren, in denen unterschiedliche Gruppen miteinander reden können.

Wichtig ist, ein echtes Verständnis füreinander zu entwickeln und Empathie zu zeigen. Nur so lässt sich die Angst der Minderheiten abbauen und gleichzeitig der Schmerz der sunnitischen Mehrheit anerkennen. Beides ist erforderlich, um in gemeinsamen Gesprächen eine Lösung zu finden, mit der alle leben können.


Eine kurze Zusammenfassung der Lage:

Sanktionen:

Nach einem Treffen der EU-Außenminister*innen sieht die EU schrittweise Lockerung der Sanktionen gegen Syrien vor, um die wirtschaftliche Stabilität zu verbessern und den Wiederaufbau zu unterstützen. Vorgesehen ist, dass zunächst Maßnahmen gegen den Energiesektor, das Verkehrswesen und den Finanzbereich aufgehoben werden. Die EU erhoffe sich so, Anreize für den Aufbau einer Demokratie zu schaffen, und dass Hunderttausende geflüchtete Syrer*innen zurückkehren können. Bestimmte Sanktionen (gegen das alte Assad-Regime, Drogen- und Waffenhandel) sollen jedoch bestehen bleiben.

Türkei: Freihandelsabkommen mit Syrien wieder in Aussicht

Das türkische Außenministerium kündigt an, das seit 2011 ausgesetzte Freihandelsabkommen mit Damaskus wiederbeleben zu wollen.

Barzanis Appell an syrische Kurd*innen

Der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans und ehemaliger Präsident der Region Kurdistan im Irak Masud Barzani rät den syrischen Kurd*innen, zunächst ihre Positionen zu vereinen und dann mit Damaskus zu verhandeln, wobei Damaskus die kurdische Identität respektieren solle. Barzani plädiert für eine föderale Lösung in Syrien. Er betont, dass die Kurd*innen kein eigenes Staatsgebiet anstreben würden, sondern als Teil Syriens ihre Rechte gesichert haben möchten. Externe Einmischungen – insbesondere durch die PKK – sollten vermieden werden.

SDF bestreiten Einsatz von Brandwaffen

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) weisen den Vorwurf zurück, bei einem Beschuss des Dorfes Tal Arash in der Region Manbij Brandwaffen verwendet zu haben. Der Syrische Zivilschutz („Weißhelme“) hatte zuvor berichtet, dass dabei zwei Kinder getötet und mehrere Menschen verletzt wurden. Am Montag veröffentlichten die SDF ein Statement, in dem sie angaben, als Reaktion auf Angriffe der türkischen Besatzung in dieser Region mit schweren Waffen acht Soldaten getötet und weitere verwundet zu haben.

Geheimdienstinformation zwischen den USA und der neuen syrischen Regierung

US-Beamt*innen bestätigten gegenüber der „Washington Post“, dass sie der neuen Regierung in Damaskus Informationen übermittelt haben, um einen IS-Anschlag auf ein Heiligtum nahe Damaskus zu verhindern. Dies soll in beiderseitigem Interesse geschehen sein, um das Wiedererstarken des IS zu unterbinden.

Pedersen (UN) zur künftigen Entwicklung in Syrien

UN-Sondergesandter Geir Pedersen sieht bei erfolgreichen politischen Reformen die Möglichkeit, dass Sanktionen aufgehoben werden. Er bekräftigt, dass der politische Prozess inklusiv sein und alle Bevölkerungsgruppen einbeziehen müsse. Pedersen betonte, Syrien dürfe nicht scheitern und es sei Zeit für einen Abzug Israels aus syrischem Gebiet.

Der UN-Gesandte bezeichnet die Situation in Syrien als überraschend positiv. Die Bildung einer vereinten Nationalarmee sowie die Aufhebung oder Minderung der Sanktionen seien zentrale Themen. Fehler könnten geschehen, doch man wolle Lehren daraus ziehen. Grundsätzlich liege die gesamte Verantwortung in syrischer Hand.

Captagon-Produktion:

Quellen im syrischen Innenministerium melden, dass über 70 % der aufgedeckten Captagon-Labore in Gebieten liegen, die früher der von Maher al-Assad geführten 4. Division unterstanden. Tausende Tabletten wurden beschlagnahmt, vorrangig in Damaskus sowie Latakia. Inzwischen wurde der Großteil der süchtig machenden Tabletten vernichtet.

USA fordern umfassenden politischen Übergang:

As’ad al-Schaibani, kommissarischer syrischer Außenminister, bestätigt Gespräche mit der US-Regierung. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos forderte er die Aufhebung der Sanktionen, die inzwischen vor allem die syrische Bevölkerung träfen. Eine Lockerung der Sanktionen sei essenziell für die Entwicklungspläne der neuen syrischen Regierung.

US-Außenminister Marco Rubio betonte in einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen die Notwendigkeit eines umfassenden politischen Wandels in Syrien, um das Land von internationalem Terror fernzuhalten.

Rückkehr aus dem Geflüchtetenlager Al-Hol geplant

Dschihan Hanan, Leiterin des von kurdischen Behörden verwalteten Geflüchtetenlagers Al-Hol in der Provinz Al-Hasaka im Nordosten Syriens, erklärte, dass Vorbereitungen laufen, 66 vertriebene Familien in ihre Heimatorte zurückzuführen. Diese Rückführung ist als erste Ausreisewelle nach dem Sturz des Assad-Regimes geplant.

Hanan betonte am Samstag, dass gegenwärtig humanitäre Fälle Vorrang hätten, und fügte hinzu, dass noch kein konkreter Termin für die Rückkehr feststehe. Sie äußerte sich nicht dazu, ob es eine Abstimmung mit der neuen syrischen Regierung in Bezug auf die kürzlich genehmigten freiwilligen Rückreisen gibt, die am Donnerstag von der kurdischen Selbstverwaltung („Autonome Verwaltung“) beschlossen wurden. Diese Maßnahme konnte erst nach dem Ende des Assad-Regimes umgesetzt werden.

Laut Hanan leben derzeit etwa 16.000 Syrer*innen im Lager Al-Hol.

UN-Finanzierung für den Wiederaufbau Syriens in Planung

Laut Mohammed Mudawi, dem stellvertretenden Landesdirektor des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) in Syrien, haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union seit 2011 über 33 Milliarden Euro für die „Syrien-Krise“ ausgegeben. In einem Interview mit „CNBC Arabia“, das am Freitag, dem 24. Januar, veröffentlicht wurde, sagte er, dass das UNDP aktuell rund 11 Millionen Menschen in Syrien direkt oder indirekt unterstütze. Einen festgelegten Finanzrahmen für dieses Jahr gebe es jedoch noch nicht.

Mit Blick auf den Wiederaufbau rechnet Mudawi mit Kosten zwischen 100 und 300 Milliarden US-Dollar. Die syrischen Behörden seien bereits dabei, genauere Daten zu erheben, um den tatsächlichen Bedarf bestimmen zu können. Besonders den Ressourcen aus Nordost-Syrien misst er hohe Bedeutung für die Wiederaufbaubemühungen bei, da deren Verfügbarkeit erheblichen Einfluss auf das Projekt habe.

Zudem habe man sich mit der Weltbank darauf verständigt, dass das UNDP die Angaben zu den benötigten Wiederaufbaumitteln überprüfen werde. Der stellvertretende Landesdirektor rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, ein Gleichgewicht zwischen humanitären und entwicklungspolitischen Maßnahmen zu schaffen.

Mudawi erwähnte außerdem, dass das UNDP 2025 mit einem Kontostand von 40 Millionen Dollar starte. Die für 2024 in allen syrischen Provinzen vorgesehenen Maßnahmen beliefen sich auf ein Gesamtvolumen von 50 Millionen Dollar – ein Wert, den er als „gering“ bezeichnete.

Bezüglich der Klimaveränderungen wies Mudawi darauf hin, dass sich die Zahl der heißen Tage in Syrien bis zum Jahr 2050 auf über 200 erhöhen dürfte. Syrien könne derzeit jedoch nicht von internationalen Klimafonds profitieren, da es durch Sanktionen noch vom Zugang zu solchen Mitteln abgeschnitten sei.

Israel baut in der entmilitarisierten Pufferzone

Neue Satellitenaufnahmen lassen auf Bautätigkeiten der israelischen Armee in der entmilitarisierten Pufferzone schließen, die die von Israel kontrollierten Golanhöhen von Syrien trennt.

Die Bilder zeigen Arbeiten auf einem Gebiet, das sich mehr als 600 Meter in diese Pufferzone hinein erstreckt. Zu erkennen sind neue Gebäude und Lastwagen auf einer kürzlich geräumten Fläche, was darauf hindeutet, dass mit den Bauvorhaben vermutlich zu Jahresbeginn begonnen wurde.

Wie die „BBC“ berichtet, bestätigte die israelische Armee, dass ihre Einheiten im Süden Syriens – innerhalb der Pufferzone und an strategischen Positionen – aktiv sind, um die Sicherheit der Bevölkerung in Nordisrael zu gewährleisten.

Nach Einschätzung von Jeremy Binnie, Nahost-Experte beim Verteidigungs- und Geheimdienst-Dienstleister „Janes“, scheint es sich um vier vorgefertigte Wachposten zu handeln, die wohl an verschiedenen Punkten aufgestellt werden sollen. Dies deutet zumindest auf eine zeitweise militärische Präsenz vor Ort hin.

Den Bestimmungen des israelisch-syrischen Waffenstillstands von 1974 zufolge dürfen israelische Truppen die sogenannte Alpha-Linie an der Westgrenze der Zone nicht überschreiten.

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