Ich schreibe diese Zeilen heute am Ufer des Nils. Sorry, so dramatisch wollte ich den Anfang dieses Newsletters gar nicht klingen lassen. Ich sitze in meinem klimatisierten Hotelzimmer in Kairo und sitze nicht wirklich in unmittelbarer Nähe des längsten Flusses in Afrika. Na ja, obwohl, irgendwie schon. In der lebendigen Hauptstadt Ägyptens scheint der Nil hier überall zu sein, und bei einem Blick aus dem Fenster ist es unmöglich, diese imposanten, tiefblauen Wasserwege zu übersehen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich zurzeit in Kairo bin?
Ich bin für das Filmfestival hier und sitze in der Kritiker-Jury der FIPRESCI (Fédération Internationale de la Presse Cinématographique). Das Festival ist letzten November aufgrund der israelischen Luftangriffe auf Gaza aus Solidarität ausgefallen und dieses Jahr, in der inzwischen 45. Edition, hat das Festival einen großen Fokus auf Palästina gelegt. Es gibt ein eigenes Programm, das Kurzfilme aus Gaza zeigt, es finden sich auch sonst viele Titel aus Palästina in den verschiedenen Sektionen. Der Eröffnungsabend selbst begann mit der Performance einer Tanzgruppe aus Gaza und Rashid Masharawis palästinensisches Road Movie „Forbidden Dreams“, über einen kleinen Jungen, der seine weggeflogene Taube sucht.
Für mich, beziehungsweise meine (dreiköpfige) Jury, war der internationale Wettbewerb von Bedeutung. Und hier gab es viele starke Filme, etwa aus Rumänien, Belgien, Ägypten oder anderswo, doch die Preisverleihung ist erst morgen, also am Freitagabend, und ich werde hier nichts über die Entscheidungen unserer Jury preisgeben können. Diese Arbeit nehme ich sehr ernst, es gilt Schweigepflicht, bis die Preise endgültig überreicht sind!
Es ist aber wie immer eine tolle und bereichernde Erfahrung als Filmkritiker, in einer Jury zu sitzen. Auch wenn es am Ende des Tages pure Arbeit ist, und teils auch anstrengend sein kann, zum einen die Filme zu sichten (17 in 7 Tagen) und zum anderen, sich mit seinen Jurymitgliedern auszutauschen und über Filme zu diskutieren. Glücklicherweise konnten wir uns am Ende auf einen Film einigen.
Fokus Afghanistan
Die Lage der Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban vor inzwischen drei Jahren verschlechtert sich nach wie vor drastisch. Es erreichen uns täglich nicht gerade überraschende, aber dennoch unfassbare Nachrichten, dass Frauen nach und nach aus fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden. Dass ihre Stimmen niemals öffentlich gehört werden dürfen oder dass Frauen nicht mehr miteinander sprechen dürfen, sind so dermaßen bizarre und unmenschliche Regelungen (und wie diese überhaupt durchgesetzt werden sollen ist mir ein Rätsel), dass man oftmals bei diesen Schlagzeilen denkt, ob da irgendwas in der Übersetzung schiefgelaufen ist oder ob es sich einfach um Satire handelt.
Was tun bei so einem Ausmaß an Unterdrückung? Eine Möglichkeit wäre, afghanischen Stimmen eine Plattform zu bieten, damit sie selbst über ihre Schicksale sprechen können, anstatt dass jemand über sie spricht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm „Bread & Roses“ von Sarah Mani, der 2023 auf den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte und ab morgen auf Apple TV+ gestreamt werden kann (ich weiß, ich finde auch, der hätte einen Kinostart verdient).
Der Film handelt von afghanischen Frauen, die sich gegen die Rückkehr der Taliban stellen, soweit und so gut sie können, wie zum Beispiel Zahra Mohammadi, eine Zahnärztin, die nicht mehr arbeiten darf und in ihrer ehemaligen Praxis aktivistische Treffen mit Gleichgesinnten organisiert. Sharifa und Taranom sind weitere Protagonistinnen des Films, die erstere eine ehemalige Regierungsangestellte, die ebenso nicht mehr arbeiten darf und zuhause verweilt, die letztere eine politische Aktivistin, die nach Pakistan geflüchtet ist und Einblicke in ihren einsamen Alltag gibt.
„Bread & Roses“ ist ein melancholischer, herzzerreißender Film, und es ist schwierig, über so etwas wie Hoffnung zu sprechen, wenn keine nachhaltige Besserung in Sicht ist und auch die Schicksale der Protagonistinnen am Ende unklar bleiben. Aber dass es so einen Film überhaupt gibt, dass hier afghanische Frauen selbst Einfluss auf ihre mediale Darstellung haben können, das ist aus Sicht der Dokumentation ein Gewinn für die Zuschauer*innen.
In gewisser Weise steht dieser Film im Dialog mit einer weiteren aktuellen Dokumentation, die zwar noch keinen regulären Kinostart hatte, aber auf ein paar Festivals gelaufen ist, nämlich die deutsch–amerikanische Koproduktion „Hollywoodgate“ von Ibrahim Nash’at. Diese behandelt in gruseliger Intimität ebenfalls die Rückkehr der Taliban und begleitet ein Jahr lang ein paar hochrangige Mitglieder im innersten Kreis. Es wäre eine gute Idee, wenn Kinos oder Sender die beiden Filme „Hollywoodgate“ und „Bread & Roses“ nacheinander zeigen und dadurch einen dokumentarischen Fokus auf Afghanistan legen könnten. Sie sind gleichermaßen sehenswert.
NEU IM KINO: Shambhala
Diese Woche erreicht uns auch ein echtes Juwel aus Nepal, ein Film so einzigartig und meisterhaft inszeniert, dass man sich dem Ganzen trotz der Überlänge (150 Minuten) glücklich ergibt. Regisseur Min Bahadur Bham erzählt die Geschichte eines polyandrischen Dorfes im Himalaya Gebirge in Nepal, also ein Ort, wo Frauen mit mehr als einem Mann verheiratet sein können. Die schwangere Pema (wunderbar gespielt von Thinley Lhamo) ist frisch mit Tashi und seinen zwei Brüdern Karma und Dawa verheiratet. Der letztere ist noch ein Kind, und diese Ehe ist nur symbolisch zu verstehen.
Pema nimmt vielmehr eine Mutterfigur in dieser Beziehung ein. Als Tashi auf seinem Arbeitsweg spurlos verschwindet, macht Pema sich auf den Weg, um nach ihm zu suchen. Begleitet wird sie dabei von Tashis jüngerem Bruder und ihrem Quasi-Ehemann Karma, der eigentlich Mönch ist und viel eher dieser Beschäftigung im Kloster nachgehen möchte, als seiner Quasi-Frau zu helfen. Doch die Reise muss angetreten werden und es wird einerseits eine Reise, um Tashi zu suchen, aber genauso auch eine Reise für Pema, sich selbst zu finden. Und für Pema und Karma, zueinander zu finden. Mich haben die Regie, die Kamera, der Schnitt und überhaupt die Story voll und ganz überzeugt. Und hoffentlich dich bald auch.
Danke fürs Lesen und viel Spaß beim Schauen
Dein Schayan
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