Auch, wenn die Erfahrungen und Prozesse „Migration/Flucht“ und „Sterben“ von jedem Menschen individuell erlebt werden, weisen sie überraschend viele Gemeinsamkeiten auf, die das Sterben für Migrant*innen und Geflüchtete in Deutschland erschweren. Welche Gemeinsamkeiten gibt es und warum es wichtig ist, sich mit diesen Überschneidungen auseinanderzusetzen?
"Übergänge spielen eine zentrale Rolle"
Übergänge spielen in beiden Prozessen eine zentrale Rolle, sei es zwischen verschiedenen Welten, Identitäten oder Zugehörigkeiten. Während Migrant*innen und Geflüchtete nach einem neuen Ort suchen, an dem sie sich niederlassen oder (über-)leben können, müssen Sterbende oder Angehörige entscheiden, wo und wie sie bestattet werden möchten.
Viele stellen sich die Frage (wenn sie das Privileg haben zu wählen!): Möchte ich bei meiner (Kern-)Familie bestattet werden, an einem Ort, der mir vielleicht immer fremd geblieben ist, oder möchte ich meine Ruhestätte bei meinen Ahnen, in meiner Heimat finden, selbst wenn dort niemand mehr lebt, den ich kenne? Was lasse ich zurück? Manche wünschen sich in diesem letzten Übergangsprozess ein finales Ankommen nach einer langen Reise.
Identitäten sind nicht nur komplex, sondern sie verändern sich auch mit äußeren und inneren Einflüssen. Migrant*innen und Geflüchtete versuchen, ihren Platz in der Welt neu zu definieren, ihre verschiedenen Identitäten, alte und neue, zu integrieren und zu navigieren. Genau so blicken am Ende des Lebens viele Menschen auf ihr Leben zurück, hinterfragen Entscheidungen und Lebenskonzepte, oder auch den Sinn der eigenen Existenz und des Lebens. Aber auch der Verlust der Autonomie und zunehmende Abhängigkeiten können Veränderungen in der Selbstwahrnehmung beeinflussen.
Hinzu kommt, dass sich Menschen in kollektivistischen Kulturen weniger als abgegrenztes Individuum verstehen, sondern als Teil eines Kollektivs (Familie, Religions- oder ethnische Gruppe). Ihre Beziehungen und Gemeinsamkeiten mit anderen sind stärker mit der eigenen Persönlichkeit verbunden, als es bei individualistischen Kulturen der Fall ist. Gerade hier kann der Verlust einer nahestehenden Person starke Rollenveränderungen und Transformationen in der Identität bedeuten.
Die Lebens- und Sterberealitäten von Migrant*innen und Geflüchteten bleiben häufig im Verborgenen, sind unsichtbar. Bewegungen wie Black Lives Matter versuchen, diese Realitäten sichtbarer zu machen. Der Versuch, sich dieser Unsichtbarkeit zumindest im Tod, in der Trauer zu widersetzen, sich zu verbinden, bedeutet häufig, der Welt zu kommunizieren: Diese Person hat gelebt und es gibt hier Menschen oder eine ganze Community, die diese Person geliebt haben. Bestattungsrituale signalisieren daher auch Zugehörigkeit und Widerstand gegen Fremdbestimmung.
Kultur und Religion spielen sowohl in der Flucht- und Migrationsgeschichte als auch im Tod eine bedeutende Rolle. Sie können der Grund sein, weswegen Menschen vertrieben wurden und nach Deutschland kamen. Sie können der Anker in der Fremde sein, oder der Grund, warum man immer zerrissen bleibt.
"Beide Erfahrungen markieren eine ungewisse Reise"
Und selbst wenn wir im Leben nur wenig mit der Religion oder Kultur, mit der wir uns identifizieren oder von außen identifiziert werden, zu tun haben, werden diese Aspekte im Sterbe- und Trauerprozess wichtig. Sie geben vielen Menschen Halt und Orientierung, und oft ist es ein (letzter) Versuch, sich einem Ort, einer Kultur, einer Gemeinschaft zu verorten und zugehörig zu fühlen. Für viele Migrant*innen und Geflüchtete markieren Gräber daher auch den Endpunkt ihrer Migration.
Wir merken, sowohl bei der Migration und Flucht als auch beim Sterben sind die Bedingungen von Mobilität, Improvisation und Ungewissheit allgegenwärtig. Die Flucht und Reisen in ein fremdes Zuhause, der Aufbau eines neuen Lebens, all das ist ungewiss. Für die Sterbenden und ihre Hinterbliebenen bestehen viele Unsicherheiten: Was kommt nach diesem Leben? Wie wird das Leben ohne die geliebte Person? Beide Erfahrungen markieren eine ungewisse Reise, wobei der Ausnahmezustand sowohl beim Tod als auch bei der Flucht und Migration anhalten kann.
Sowohl in der Fremde als auch im Tod, den wir auch als das ultimativ Fremde betrachten können, erleben wir Ausschlüsse und das Ziehen von Grenzen. In Zeiten von Krankheit und Tod wird noch deutlicher, wer als „fremd“ betrachtet wird, und die Grenzen und Bedeutungen von Gemeinschaften und Gastfreundschaft werden hinterfragt. Von wem erhält man Unterstützung, wer legt einem Steine in den Weg? Denken die bestehenden Systeme die schwächsten und jüngsten Mitglieder der Gesellschaft mit? Gemeinschaften sind essenziell, um die Flucht, das neue Leben zu meistern, die Trauer zu verkraften und der Einsamkeit etwas entgegenzusetzen.
In meiner Forschung bin ich auf viele Tabus in Bezug auf den Tod von marginalisierten Menschen gestoßen. Sei es, dass die Lebens- und Sterberealitäten von Migrant*innen und Geflüchteten in Deutschland kaum Beachtung finden, oder dass in vielen Familien und Gemeinschaften kaum über den Tod gesprochen wird. Nicht nur die geografische Distanz, sondern auch kulturelle oder religiöse Tabus, können es erschweren, wichtige Themen vorher zu besprechen und Entscheidungen im Voraus zu treffen. Das kann dazu führen, dass es bei vielen Menschen eine Art „rituelles und religiöses Unwissen“ gibt.
"Beide Erfahrungen und Prozesse bergen auch Hoffnung"
In meiner Forschung haben mir Leute, vor allem jüngere, berichtet, dass sie sich kaum mit den Bestattungspraktiken ihrer Religion und Kultur auskennen oder Zugang dazu haben, weil in ihrer Familie nicht darüber gesprochen wird. Das macht sie in dieser Ausnahmesituation verletzlicher und abhängiger von der Unterstützung anderer.
Ich glaube, die offensichtlichste Gemeinsamkeit ist die Erfahrung von Verlusten und Abschieden, von Menschen, vom eigenen Leben, von Bekanntem, Vertrauten, Orten, Erinnerungen, Möglichkeiten, Zukünften …
Ich merke, das ist für mich der emotional schwierigste Punkt, weil diese Liste endlos und schmerzhaft ist. Ihr könnt es euch gut vorstellen und daher höre ich an diesem Punkt auf.
Und doch – beide Erfahrungen und Prozesse bergen auch Hoffnung. Auf ein besseres, sichereres Leben. Ein Wiedersehen mit denen, die vor einem gegangen sind, oder auch die Befreiung von einem langen Leidensweg. Die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft, eine neue Chance. Ein danach.
Wie wir aus den Beispielen im vorherigen Newsletter gesehen haben, müssen marginalisierte Menschen selbst im Tod einige Kompromisse eingehen, die den Verlust eines geliebten Menschen oder das eigene Lebensende noch verschlimmern können. Ähnlich verstärken sich die Erfahrungen und Prozesse der Migration und Flucht mit denen des Sterbens in ihren Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Sie bringen viele ähnliche emotionale, psychologische und soziale Herausforderungen mit sich und verstärken deshalb ihre Intensität und Bedeutung gegenseitig.
Das bedeutet schlussendlich, dass marginalisierte Menschen oft viel größeren und komplexeren Leiden und Hürden am Lebensende und beim Verlust eines Menschen entgegenstehen, als es die Mehrheitsgesellschaft tut. Und genau deshalb braucht es mehr Aufmerksamkeit für diese Lebensrealitäten und Erfahrungen, in der Mehrheitsgesellschaft und auch den betroffenen Familien und Communities selbst.
Call to action
Welcher der Punkte heute hat dich am meisten berührt oder angesprochen? Welche Gemeinsamkeiten hast du schon erfahren und welche fehlen?
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