Liza, Andrii, Sofiia und Anzhelika aus der Ukraine, Nikolai aus Russland und Melisa aus der Türkei sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. Sie sind noch nicht lange in Deutschland und gehen in die 9. und 10. Klasse am Louise Weiss Gymnasium im Hamburger Stadtteil Borgfelde. In ihrer Zeit in der Internationalen Vorbereitungsklasse und beim Übergang in die Regelklasse begleitet das Mentoring-Programm WEICHENSTELLUNG der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS die sechs Schüler*innen. Gemeinsam mit ihrer Mentorin Isabel schauen sie hier auf die letzten Monate zurück. Wie war ihr Ankommen in Hamburg? Was bedeutet Schule für sie? Und wie war ihre Zeit im Mentoring-Programm?
Isabel: Liza, vor einem Jahr etwa hast du deinen Koffer gepackt und bist nach Hamburg gezogen. Welcher Gegenstand musste unbedingt mit?
Liza: Ich glaube, ich habe Chips mit Käsegeschmack eingepackt. Die von meiner Lieblingsmarke gibt es nämlich in Deutschland leider nicht. Und meine Meerschweinchen. Und natürlich ukrainisches Essen. Das fehlt mir sehr.
Melisa: Stimmt, das Essen fehlt mir auch. Ich würde heutzutage kleine Gurken einpacken. In meinem Salat in Deutschland fehlen Babygurken!
Isabel: Als du dann in Hamburg angekommen bist: Wie wurdest du von den Hamburger*innen begrüßt?
Liza: Meine Erfahrung ist, dass alle Hamburger*innen, die ich getroffen habe, sehr nett und hilfsbereit sind.
Melisa: Das war auch meine Erfahrung. Hamburger*innen sind hilfsbereit und respektieren alle Perspektiven und Gedanken.
Anzhelika: Bei mir war es ein bisschen anders. Ich bin im Winter nach Deutschland gekommen. Im März. Aber März, das ist doch Frühling!, werdet ihr jetzt sagen, aber damals war so kaltes Wetter wie im Winter. Es lag Schnee.
Alle Leute sind uns mit verschiedenen Emotionen begegnet. Einige waren total nett. Sie haben uns mit vielen Sachen geholfen – im Job-Center registrieren, zur Schule gehen und so weiter. Aber wir haben auch nicht so gute Menschen getroffen. Zum Beispiel: Meine Mutter musste ins Krankenhaus. Sie hat versucht, mit der Ärztin auf Englisch zu sprechen. Aber die Ärztin sagte, dass wir bereits seit drei Monaten in Hamburg sind und die deutsche Sprache schon besser können sollten. Das fand ich doof.
Isabel: Das glaube ich dir! Und wie war es für dich, Sofiia?
Sofiia: Für mich war mein Anfang in Hamburg hart, weil wir sehr viel umgezogen sind.
Isabel: Habt ihr manchmal Heimweh?
Nikolai: Ich fühle mich manchmal in der neuen Umgebung einsam. Ich vermisse die Stadt, aus der ich komme, die Menschen und manchmal weiß ich nicht, wer ich selbst bin.
Andrii: Ich vermisse meine Heimat auch. Ich mag sie sehr. Ich kann dort coole Sachen machen, die ich in Deutschland nicht machen kann. In der Ukraine war ich dabei, Jäger zu werden. Das ist hier nicht oder anders möglich. Das fehlt mir.
Melisa: Ich vermisse mein Haus, die Nachbar*innen und die Straße, in der mein Haus steht.
Isabel: Ihr habt mir erzählt, dass ihr euch schnell an das Wetter in Hamburg gewöhnen konntet. Wie ist es mit dem Essen?
Andrii: Da fällt mir sofort etwas ein! Ich mag keine deutschen Knödel, weil sie ohne Fleisch oder eine andere Füllung schrecklich sind.
Nikolai: Das ist doch so lecker.
Sofiia: Ich vermisse Popcorn mit Käse im Kino.
Andrii: In der Ukraine gibt es auch Popcorn mit Karamell.
Liza: Und wir haben einen sehr, sehr leckeren Krabbensalat ohne Krabben.
Sofiia: Da sind Fischstäbchen drin.
Isabel: Ich verstehe, in der Ukraine sind die Kartoffelknödel mit Fleisch und der Krabbensalat ohne Krabben! Ihr beschreibt aber auch, dass ihr die Menschen aus eurer Heimat vermisst. Wie haltet ihr Kontakt zu euren Freunden und Freundinnen?
Melisa: Wir sprechen leider nicht mehr wie früher und hören unsere Stimmen. Aber wir schicken uns gegenseitig lustige Videos. Früher haben wir alle dieselben Erfahrungen gemacht, weil wir immer zusammen in der Schule waren. Jetzt sind wir alle in unterschiedlichen Situationen, deshalb gibt es viele Dinge, über die wir sprechen und schreiben können.
Sofiia: Ich habe eine ukrainische Freundin. Sie heißt Lena. Sie wohnt jetzt in München. Wir haben uns zweimal getroffen. Einmal bin ich nach München gekommen und einmal haben wir uns in Nürnberg getroffen. Auch über soziale Netzwerke bleiben wir in Kontakt.
Liza: Alle meine Freunde sind in der Ukraine. Wir telefonieren fast jeden Tag und senden uns Nachrichten.
Nikolai: Meine zwei besten Freunde und ich haben eine gemeinsame Chat-Gruppe.
Anzhelika: Ich nutze immer Social Media, wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden aus der Ukraine sprechen möchte.
Isabel: Nach eurer Ankunft in Deutschland habt ihr alle angefangen, eine neue Sprache zu lernen. Man sagt: Sprachen sind der Schlüssel zu Kulturen. Was fällt euch dazu ein, wenn ihr an eure neue Zweitsprache Deutsch denkt?
Melisa: Ja, ich stimme dem Spruch zu. Es ist wichtig, schnell die Sprache zu lernen. Die deutsche Sprache hat eigene Wörter, die es in anderen Sprachen und Ländern nicht gibt. Und Deutsch klingt für mich immer offiziell und ernst. Ich mag die deutsche Sprache.
Liza: Ich glaube auch, dass es immer gut und wichtig ist, eine neue Sprache zu lernen. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit dazu habe.
Anzhelika: Ich glaube, ich denke ein bisschen genauer darüber nach, was ich sage, wenn ich Deutsch spreche. Dadurch wird das, was ich sage, disziplinierter.
Isabel: Liza, du hast mir von einem ukrainischen Sprichwort erzählt. Es lautet: ‚Die Schule ist dein zweites Zuhause‘. Kannst du mir das erklären?
Liza: In der Schule verbringen wir fünfmal in der Woche mehr als den halben Tag. Manchmal verbringen wir in der Schule mehr Zeit als zuhause. Da ist es sehr wichtig, dass die Schule uns gefällt, dass wir uns wohl fühlen.
Melisa: Ich finde das auch. Wir sind so lange in der Schule. Es ist wichtig, dass sich die Schüler*innen wohlfühlen.
Isabel: Auch Schulen können dazulernen. Nikolai, hast du ein paar Tipps?
Nikolai: Mir fehlt ein Raum zum Liegen und Entspannen.
Anzhelika: Mehr Ausflüge.
Nikolai: Schönere Bänke.
Melisa: Ein Unterricht nur für den Wortschatz und für das Lesen.
Isabel: Ich stelle mir die Umgewöhnung bei eurer Ankunft in Hamburg sehr groß vor. Wie war das vor einem Jahr für euch?
Andrii: Sprachen kann ich gut lernen. Mein Problem war zu Beginn, dass ich keine Freunde hatte. Deshalb war diese Zeit am schwierigsten für mich.
Melisa: Es war aber nicht so schwierig, neue Freunde zu finden, weil alle in der Klasse neu waren. Ich denke, dass viele Leute miteinander befreundet sein wollten. Manchmal gab es leider keine verständliche Kommunikation.
Sofiia: Ja, es war schwierig zu verstehen, was andere Leute zu einem sagen und Freunde zu finden.
Anzhelika: Ich fand es auch schwierig, mich in der Schule zu orientieren.
Nikolai: Es war okay.
Isabel: Liza, du bist erst ein halbes Jahr nach den anderen in die IVK gekommen.
Liza: Ja, aber ich hatte Glück. Ich konnte in meiner IVK-Klasse mit vielen Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine reden. Wenn jemand nicht so gut Englisch und Deutsch spricht, kann man einfach nicht mit anderen kommunizieren. Eine Freundin erzählt mir immer, dass sie ihre Klasse nicht mag. Sie ist immer allein.
Isabel: Was würdet ihr in einer solchen Situation tun, um Lizas Freundin zu helfen?
Anzhelika: Ich würde versuchen, mit ihr eine gemeinsame Sprache zu finden.
Sofiia: Ich würde ihr die Schule zeigen.
Nikolai: Ich würde mit der Person freundlich reden und etwas zusammen machen.
Melisa: Ja, wir könnten einen Spaziergang durch die Stadt machen. Dann könnte sie sehen, wie schön Hamburg ist.
Liza: Ich würde mit ihr meine Lieblingsplätze anschauen. Und mein Tipp lautet: Bring auf jeden Fall einen Regenschirm mit!
Sofiia: Wir könnten ihr auch das WEICHENSTELLUNG-Projekt vorstellen.
Isabel: Wie würdest du ihr das Projekt beschreiben?
Sofiia: Die Förderstunden helfen ihr, Deutsch zu lernen und sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Manchmal kann man auch quatschen oder bekommt andere Hilfe. Es werden auch Ausflüge gemacht.
Isabel: Stimmt! Mit dem Projekt WEICHENSTELLUNG hast du schon ein paar Kulturausflüge gemacht. Kannst du etwas darüber erzählen?
Andrii:. Wir sind einmal spazieren gegangen. Ich habe mit den anderen gesprochen und viel über das Leben der anderen aus der Gruppe erfahren. Es war sehr interessant darüber zu sprechen. Wir waren auch mal in der Kunsthalle. Und im Zoo. Einmal waren wir bei Planten un Blomen und haben ein Quiz über Pflanzen gemacht.
Melisa: Einmal gingen wir drei oder vier U-Bahnstationen zu Fuß. Wir haben uns die Graffiti an den Straßen angesehen und debattiert, ob Graffiti erlaubt sein sollen. Wir haben auch über Kunst in unserem Heimatland gesprochen.
Liza: Mir hat am besten der Ausflug gefallen als wir im Kino waren. Wir haben einen deutschen Film gesehen. Das war toll. Wir waren auch mal im Planetarium.
Über WEICHENSTELLUNG
WEICHENSTELLUNG ist das Mentoring-Programm der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS mit dem Ziel, junge Menschen zu stärken und chancengerechte Bildung zu ermöglichen, unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund. Mehr unter www.weichenstellung.info
Drei Bausteine gehören zum Mentoring-Programm:
- WEICHENSTELLUNG für Viertklässler unterstützt seit 2013 Schüler*innen beim Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium oder eine andere weiterführende Schule.
- WEICHENSTELLUNG für Zuwandererkinder und -jugendliche begleitet seit 2015 Schüler*innen aus Zuwandererfamilien beim Übergang von der Internationalen Vorbereitungsklasse in die Regelklasse.
- WEICHENSTELLUNG für Ausbildung und Beruf unterstützt in Hamburg (seit 2019) Jugendliche – mit und ohne (Neu-)Zuwanderungsgeschichte – in den Jahrgangsstufen 9 und 10 und in den Ausbildungsvorbereitungsklassen für Migranten (AvM) an den Beruflichen Schulen bei der Erreichung ihres Schulabschlusses, mit dem Ziel der Anschlussfähigkeit in die Ausbildung bzw. in einen weiteren Bildungsgang.
Die Namen sind oben von links nach rechts.: Sofiia Yakovenko, Melisa Nur Yildiztekin, Yelyzaveta (Liza) Melnykova, Anzhelika Rusinova, die beiden Jungs (ebenfalls von links nach rechts) sind Nikolai Shluinskii und Andrii Andriushchenko.