Vater sprach nicht oft über Herkunft. Nur alle paar Monate entglitt ihm eine Geschichte aus der fernen Vergangenheit, und doch schien diese so weit entfernt zu sein wie die Lehmdörfer Anatoliens, die einst in seiner Brust tobten. Noch weiter weg war dabei der Mensch, der er in diesen Erzählungen war. Alles, was ihm blieb, war die Verbundenheit zu den endlosen Weiten des Meers. Herkunft wurde für meine Schwester und mich nicht mehr als diese verschwommene Erinnerung, die sich einmal im Jahr sammelte – sandig und dunkelblau, durchwoben mit den Zärtlichkeiten unserer Vorfahren.
Baba lernte das Vergessen. Ich wusste zu wenig, um zu vergessen und dennoch schien sie in mir zu leben. Ich lehnte sie ab, hasste. Ich wollte nicht das Fremde sein, was die Worte aus ihr machten. Ich wollte Vergangenheit löschen. Als meine Mitbewohnerin vom Vermissen erzählt, runzele ich die Stirn. Wie kann es sein, dass du vermisst und nicht verneinst? Was hält dich hier, wenn du dich sehnst nach dem, wie es mal war?
Dass Herkunft nicht immer Hass bedeuten muss, war schwer für mich zu begreifen. Dass Bekanntheit, Zugehörigkeit und Erinnerung sich miteinander verweben und schützen können vor dem Gegenwind, den ich kennengelernt habe, das sehe ich erst, nachdem ich alles, was hätte sein können, schon abgelehnt habe. Als ein Freund nach einem langen Tag voller Frustrationen berichtet, sehnt er sich nach der Welt mit mehr Wärme, wie er sie einst kennengelernt hat. Auch nach 8 Jahren bleiben die Fragezeichen in seinem Kopf über die Dinge, wie sie hier sind. Am Ende des Gesprächs steht fest, dass das Hierbleiben keine Option mehr ist.
"Zu Hause ist woanders. Zurück führt sein Weg aber nicht"
Auch von meiner Mitbewohnerin kenne ich das, wie diese Frustrationen ihr dann ins Gesicht geschrieben sind, wenn die Horizonte brechen, sich verbiegen und die Welt auf einmal ganz anders funktioniert. Als sie das Wort Trauer benutzte, merkte sie an, wie paradox es sei, könne sie doch jederzeit wieder zurückkehren, um die Horizonte wieder geradezubiegen, Geliebte in die Arme zu schließen, Bekanntes dann greifen und riechen zu können. Gleichzeitig wäre Rückkehr eine neue Trennung.
Auch für Opa ist das so. Deutschland bleibt fremd. Zu Hause ist woanders. Zurück führt sein Weg aber nicht. Wer sonst würde ihn halten an schweren Tagen, wohin würde er sonst mit seinen Sorgenfalten? Er will nicht bleiben, aber die Menschen halten ihn. Er trauert schon seit 50 Jahren, es muss wehtun, das Unerreichbare so zu vermissen.
In Vaters Büro finde ich in einem Ordner abgeheftet das abgeschlossene Kapitel seines Trauerns: Plötzlich anders zu sein, fremd zu sein, nicht verstanden zu werden. Wenn du nicht sprechen kannst, wer kannst du dann überhaupt sein? Er schreibt über die fehlende Wärme der Menschen, die zerbrochenen Freundschaften, die Tränen und langen Gesichter seiner Geschwister und ihm. Mutter habe die Tränen trocknen können und kalte Hände wieder warm gemacht. Weil Rückkehr keine Option war, lernte er Bier zu mögen und weniger warm zu sein. Er sagt, dass das gut so war. Das Vermisste wurde Erinnerung, zu einem abgeschlossenen Kapitel in einem verstaubten Ordner. Es wurde irrelevant.
"Aber wenn es um Herkunft geht, verneine ich"
Und alles, was am Ende bleibt, ist deine Verbundenheit zum Meer. Sie war das einzige Vermissen, das ich von dir kannte, wie du nach der Ankunft im Urlaub zum Rauschen des Meeres eiltest, mich mitzogst in die einzige Zugehörigkeit, die noch blieb. Aber wenn es um Herkunft geht, verneine ich. Sie verblasste.
Wenn ich mit Menschen dritter Generation über Herkunft spreche, dann sagen sie, dass sie nicht viel zu sagen haben. Dieser Teil lebt nicht mehr in uns. Wir haben verlernt, verneint, vergessen. Aber genau das sagt doch so viel darüber aus: Dass du einen potenziellen Teil von dir nicht zugelassen oder weggeschoben hast. Dass Herkunft zu einer fernen Erzählung wurde, deren Worte unleserlich waren.
"Das Vermissen steht dann in seiner reinsten Form zu sich"
Das muss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes sein, kann es aber. Wenn du zum Beispiel nicht zulassen magst, wer du bist, wie du ausschaust, verachtest, wenn deine Eltern diese ‚fremde‘ Sprache sprechen, dich schämst. Der Unterschied zwischen Vergessen und Verneinen ist, dass das eine einfach passiert und du dich zum anderen zwingst oder Worte dich nötigen, Ängste dich treiben.
Das Vermissen hingegen steht dann in seiner reinsten Form zu sich, erkennt diesen Teil an, lässt ihn zu. Einer dieser Menschen, der Herkunft auch nicht kannte, er erzählt mir von seinem zulassenden Suchen. Er findet Worte dieser Fremde, die in ihm lebt, lernt sie, stellt sich gegen das Vergessen, macht sie heimisch. Im Gespräch kommen wir zu dem Punkt, dass diese Vergangenheit unauflöslich existiert, ob wir wollen oder nicht. Dass sie in uns leben kann, wir sie fortschreiben können. Dass wir uns in ihr sicher fühlen können, wenn wir Platz in uns freimachen.
Wir vergaßen das. Für einen Moment schweigen wir, es wirkt noch. Wir verabschieden uns in der Sprache, für die ich mich einst schämte. Am Ende des Tages will ich suchen und finden, bin ich mir aber nicht sicher, ob ich das kann.