In der letzten Folge habe ich von vielen traurigen Dingen aus Syrien berichtet. Das kommt vielleicht unerwartet, insbesondere wenn man die Beiträge von Syrer*innen in den sozialen Medien betrachtet, die ins Land zurückgekehrt sind. Dort war eher Thema, wie sehr viele Syrer*innen unter Heimweh leiden und wie sie nicht glauben können, dass Assad tatsächlich gestürzt wurde.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Damaskus etwas später besucht habe. Viele Syrer*innen sind direkt nach Assads Sturz dorthin gereist, als noch große Freude herrschte und die Menschen vor lauter Euphorie andere Probleme nicht wahrnahmen. Damals war die Hoffnung auf Veränderung sehr groß, nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in für die Wirtschaft und die Gesellschaft.
Ein arabisches Sprichwort lautet: „rahat alsukrat wajat alfikra“, was auf Deutsch etwa bedeutet: „Die Trunkenheit ist verflogen und der Gedanke kam.“ Damit meine ich, dass nach der anfänglichen Euphorie über Assads Sturz nun der Zeitpunkt gekommen ist, die Probleme und die schwierige wirtschaftliche Lage in Syrien zu erkennen und darüber nachzudenken, wie man Lösungen dafür finden kann. Dabei wird deutlich, wie sehr Syrien zerstört ist und wie viele Herausforderungen und Probleme vor der Tür stehen. Es braucht schnelle und gemeinsame Lösungen, aber auch langfristige und durchdachte Konzepte.
Wo sind die Frauen in Damaskus?
Damaskus hat sich ebenfalls verändert. Ich fragte meine Brüder: „Wo sind die Damaszener Frauen? Ich sehe sie kaum noch.“ Mein Bruder meinte, man müsse nur auf die Straße schauen. Nach zwei Stunden verstand ich. Vor dem Krieg sah man in Syrien wesentlich mehr Frauen auf der Straße, besonders in der Nähe der Universität oder dort, wo mein Bruder und ich uns aufhielten. Die meisten dieser Frauen trugen kein Kopftuch.
Das lag nicht unbedingt daran, dass in Syrien generell wenige Frauen Kopftuch tragen, sondern eher daran, dass es – wie auch in Deutschland – nicht leicht ist, mit Kopftuch eine gute Arbeitsstelle zu finden. Es gibt zum Beispiel keine Moderatorinnen, Schauspielerinnen oder Sängerinnen mit Kopftuch. Viele Frauen mit Kopftuch arbeiten stattdessen in Behörden, während es in der Privatwirtschaft sehr schwierig ist, eine Stelle zu bekommen.
Zudem kommen viele Frauen, die aus Dörfern oder anderen Städten stammen und häufig kein Kopftuch tragen, nach Damaskus, um Arbeit zu finden oder an der Uni zu studieren. Die meisten davon gehören Minderheiten an. Generell, so heißt es, seien die Menschen in den Dörfern weniger konservativ als die in der Stadt. Das ist anders als in Deutschland. Beispielsweise sind die „echten“ Damaszener konservativer als Leute aus den umliegenden Dörfern oder anderen ländlichen Gebieten in Syrien. Warum das so ist, ist eine lange Geschichte und man müsste dafür wohl Sozialwissenschaftler*innen hinzuziehen … Ich kann das auf jeden Fall nicht allein erklären.
Viele Frauen sind nach Assads Sturz zu ihren Familien und Dörfer zurückgekehrt, weil die Lage unsicher wurde und auch, weil die Angst unter den Minderheiten in Syrien gerade groß ist – selbst wenn nicht eingetroffen ist, was Assads Propaganda behauptete. Assad sagte immer, nur seine Regierung könne die Minderheiten schützen, und ohne ihn würde das Blut der Minderheiten auf den Straßen fließen. Das ist so nicht geschehen, aber die Angst besteht nach wie vor und es braucht Zeit, bis das Vertrauen wächst.
Das Problem ist, dass Israel und Iran dieses gefährliche Thema für ihre Zwecke nutzen. Israel sieht sich als Beschützer der Drusen, und Iran versucht, die Angst der alawitischen Gemeinschaft auszuschlachten, damit sie gegen die neuen Machthaber in Damaskus kämpfen. Leider gibt es täglich mehr Angriffe auf die neue syrische Polizei, oder wie die neue Regierung sie nennt: al-amn al-aam (auf Deutsch „öffentliche Sicherheit“). Das verschärft die Lage in Syrien, wo viele ausländische Akteure derzeit versuchen, das Land aufzuteilen. Diese Gefahr entsteht durch Angst und fehlendes Vertrauen zwischen den Minderheiten und der neuen Regierung, die sich als Vertreterin der Mehrheit sieht.
Neue Zivilgesellschaft
Aber genug von den schlechten Nachrichten: In vielen Städten, Bezirken und Dörfern übernimmt die Zivilgesellschaft zunehmend eine größere Rolle, weil der Staat nicht mehr richtig funktioniert. Dabei wird die Zivilgesellschaft mitunter stärker als der Staat selbst: Ihre Unterstützung ist nicht nur notwendig, damit sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen kann, sondern auch, damit der Staat überlebt.
In vielen Dörfern und Städten werden zahlreiche NGOs gegründet. Leider ist das noch nicht überall der Fall, denn die sogenannte „NGO-Kultur“ ist in Syrien teilweise neu – bedingt durch das Assad-Regime, das die gesamte Zivilgesellschaft zerstört hat. Es braucht eine umfangreiche mediale Berichterstattung, um diese Kultur zu verbreiten. Syrerinnen und Syrer in Nordsyrien oder in der Türkei, im Libanon und in Jordanien haben viele NGOs gegründet und erhalten beträchtliche Unterstützung. Doch selbst diese größeren Organisationen können nicht überall in Syrien tätig sein, da ihnen dazu die Ressourcen fehlen. Außerdem lebt nicht in jeder Stadt ein Teil der Bevölkerung im Exil, der Geld schicken könnte.
Diese NGOs werden hauptsächlich von jungen Freiwilligen getragen. Die finanziellen Mittel kommen unter anderem von syrischen Exilanten, die entweder wohlhabend sind oder sich zumindest in einer stabilen Lebenssituation befinden. Sie senden nicht nur Geld an ihre Familien, sondern unterstützen auch die neu entstandenen NGOs. Diese kümmern sich beispielsweise um die Straßenbeleuchtung mithilfe von Solaranlagen, da es pro Tag oft nur zwei bis drei Stunden Strom gibt. Sie unterstützen arme Familien, versorgen Witwen und Kinder mit Lebensmitteln und teilweise auch mit finanzieller Hilfe.
Außerdem bauen sie Schulen wieder auf, reparieren Straßen und kümmern sich, sofern möglich, um Grünflächen (obwohl es in syrischen Städten aufgrund von Korruption nur sehr wenige Gärten und Parks gibt). Sie verschönern auch Hauswände mit Graffiti, sammeln Müll ein und stellen den Rathäusern Mittel für Benzin und Diesel zur Verfügung, damit diese arbeitsfähig bleiben.
Ich habe sogar gehört, dass sie inzwischen auch jenen Menschen finanzielle Hilfe leisten, die in Behörden beschäftigt sind, jedoch kein Gehalt von der Regierung erhalten. Die neue Regierung ist nicht in der Lage, alle Staatsbediensteten zu bezahlen. Katar und Saudi-Arabien wären zwar bereit, die Gehälter von über 900.000 Beschäftigten zu übernehmen (was rund 130 Millionen US-Dollar monatlich kostet), doch laut Reuters steht dies in Zusammenhang mit einer rund 400-prozentigen Erhöhung der Löhne für viele Angestellte des öffentlichen Dienstes.
Welche Rolle spielt Trump?
Allerdings besteht die Sorge vor US-Sanktionen. Leider warten alle auf Trumps Plan, da die USA aufgrund der Sanktionen gegen Syrien – die wegen Assads Krieg gegen sein eigenes Volk verhängt wurden – großen Einfluss haben. Diese Sanktionen sind ein starkes Druckmittel gegenüber der neuen, von HTS gebildeten Regierung. Die erste Bedingung, damit die USA diese Sanktionen lockern, lautet, dass die neue Regierung aus unterschiedlichen Gruppen und Parteien bestehen soll. Doch das ist nur der erste Schritt, um die Sanktionen aufzuheben.
Die große Frage ist, ob die USA überhaupt einen Plan für Syrien haben. Wenn ja, welchen? Was wollen die USA von Syrien? Welche Interessen verfolgen sie dort? Ist es weiterhin das Interesse, Minderheiten zu schützen, eine vielfältige Regierung zu fördern und den Einfluss Russlands einzudämmen?
Oder verfolgt die USA ganz andere Interessen, wie Reuters berichtet, indem sie Israel darin bestärken, dass die russische Präsenz in Syrien durch Militärstützpunkte in Tartus und Latakia bestehen bleibt? Israel fürchtet die türkische Macht in Syrien und sieht darin eine große Gefahr. Indem Russland in Syrien präsent bleibt, könnte ein Gleichgewicht gegen den türkischen Einfluss geschaffen werden.
Hast du weitere Fragen zu meiner Reise nach Syrien? Dann schreib mir gerne.
PS: Ramaden Kareem. Ob du fastest oder nicht, wir laden dich zu einem gemeinsamen Fastenbrechen am 13.3. bei uns im Büro ein.
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