Heute gibt es kein Interview, denn ich werde euch heute meine ganz persönlichen Erfahrungen mit den Bestattungen meiner Großeltern in Deutschland und Indien teilen. Nachdem ich in den letzten beiden Newsletter-Ausgaben über viel Theorie geschrieben habe, finde ich es wichtig, euch einen Blick hinter die Kulissen von „zwischen welten“ zu gewähren und euch tiefer in meine Geschichte und Motivation für diese Arbeit mitzunehmen.
Ein Hinweis: Ich werde sowohl emotional als auch detailliert über die physischen Prozesse der Tode und Bestattungen in meiner Familie erzählen. Wenn du dich im Moment nicht danach fühlst, dann lies den Newsletter vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt oder mit anderen Menschen gemeinsam.
Meine deutschen Großeltern
Als ich sechs Jahre alt war, starb mein Opa in Deutschland plötzlich an einem Herzinfarkt. Seine Tochter, meine Mutter, fand ihn 4 Tage später tot in der Wohnung. Sie rief sofort den Notarzt und mein Opa wurde wenig später in einem schwarzen Leichensack von den Bestattern abgeholt. Meine Mutter träumt bis heute von diesem furchtbaren Anblick und Moment.
Sie bat unseren katholischen Pfarrer, meiner Oma, die damals im Krankenhaus lag, seelischen Beistand zu leisten. Er weigerte sich und meinte, das gehöre nicht zu seinen Aufgaben. Wir sahen meinen Opa erst zur Beerdigung wieder. Auf dem Friedhof gab es eine sogenannte Aufbahrung, bei der sich alle, die wollten, von ihm am offenen Sarg verabschieden konnten. Ich war sechs und neugierig und wollte ihn sehen oder zumindest wissen, wohin alle anderen Leute gingen. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie meine strenggläubigen christlichen Pateneltern mir verboten, hineinzuschauen. Ein Kind habe dort nichts zu suchen, meinten sie.
Auch am Grab versuchte ich hineinzublicken, um zu sehen, wo mein Opa nun war. Danach gab es einen sogenannten „Leichenschmaus“, bei dem sich alle Trauergäste in einem Restaurant zusammenfanden und über meinen Opa und sein Leben sprachen. Danach gingen alle ihre getrennten Wege und unsere kleine Kernfamilie blieb mit ihrer Trauer allein.
Vor 10 Jahren, als ich 24 Jahre alt war, starb meine Oma in Deutschland nach kurzer Krebserkrankung im Krankenhaus. Meine Mutter, die bei ihr gewesen war, rief mich direkt frühmorgens an und fragte, ob ich mich von ihr noch im Krankenhaus verabschieden wolle. Ich solle mich beeilen, sie müssten das Bett räumen.
"Dieser warme Moment in diesem kalten Raum berührt mich bis heute sehr"
Es war das erste Mal, dass ich eine verstorbene Person sah. Unter Tränen fragte ich meine Mutter, ob ich meine Oma berühren könne. Natürlich. Hinterher schämte ich mich für diese Frage. Ich hatte Schuldgefühle, dass ich bei ihrem letzten Atemzug nicht dabei und meine Mutter allein gewesen war.
Wir riefen die Schwester meiner Oma an und fragten sie, ob sie sich auch von ihr verabschieden möchte. Ich holte sie ab und als wir ankamen, hatten sie das Bett meiner Oma schon frisch bezogen und sie in einen „Abschiednahmeraum“ gebracht. Dieser Raum befand sich im Keller des Krankenhauses; ein fensterloser, gefliester, neonlichtgefluteter Raum, in dem meine Oma mit einem Tuch bedeckt in der Mitte auf einem Tisch lag. Ihre Schwester ging langsam auf sie zu, berührte liebevoll ihre Wange und sagte „Ach, meine Kleine.“ Dieser warme Moment in diesem kalten, sterilen Raum berührt mich bis heute sehr.
An die Beerdigung kann ich mich kaum erinnern, nur an die Menschen, die uns an dem Tag begleiteten und dass der Pfarrer kaum gerade stehen konnte und beinahe ins Grab gefallen wäre (er war Alkoholiker). Auch nach diesem Tag gingen wir alle unsere getrennten Wege und blieben mit unserer Trauer allein, von meiner Oma wurde nur noch wenig gesprochen.
Meine indischen Großeltern
Im Februar 2020, kurz vor der Pandemie, starb meine Ammaji (meine Oma väterlicherseits) unverhofft während einer Operation in Delhi in einem Krankenhaus. Mein Vater saß im Flieger nach Delhi, als sie starb, in der Hoffnung, sie lebend nach Hause zu holen. Obwohl ich den nächsten Flieger buchte, war klar, dass ich meine Ammaji nicht mehr sehen würde, denn nach der Tradition meiner hinduistischen Familie musste ihre Seele in weniger als 24 Stunden von ihrem Körper erlöst werden.
Dennoch wollte ich so schnell wie möglich bei meiner Familie und meinem Vater sein. Als er ankam, wurde seine Mutter noch am selben Tag auf einem „traditionellen“ Holzscheiterhaufen unter freiem Himmel verbrannt. Es war pures Glück, dass er rechtzeitig (und gleichzeitig auch nicht) in Delhi angekommen war, um als ältester Sohn die Bestattungsriten durchzuführen.
Als ich am nächsten Tag in Delhi ankam, wusste ich nicht, was mich erwarten würde. Früh am Morgen fuhren wir, die älteren Männer der Familie und wir Enkelkinder zum Ghat (Verbrennungsstätte), um die Überreste zu holen und sie zum Fluss Ganga zu bringen. Es war der Wunsch unserer Väter, dass auch die weiblichen Enkelkinder daran teilnehmen, was sonst unüblich ist.
"Ich realisierte das erste Mal wirklich, wo wir waren und was passiert war"
Nur wenige Stunden nach meiner Ankunft in Delhi stand ich also an der Stelle, an der meine Ammaji am Tag zuvor verbrannt worden war. Mir zog es den Boden unter den Füßen weg; ich realisierte das erste Mal wirklich, wo wir waren und was passiert war. Mein Vater erhielt vom Pandit (Priester) Anweisungen, wie er die Riten durchzuführen hatte, und alle anderen standen um die Überreste meiner Ammaji herum und beobachteten die Prozedur.
Mein Vater war wie versteinert und befolgte die Anweisungen des Priesters wie ein Roboter. Ich konnte diesen Anblick kaum aushalten, also setzte ich mich hinter ihn und legte ihm meine Hand auf den Rücken, um ihm zu zeigen – ich bin da. Die Brüder meines Vaters folgten meiner Geste.
Wenig später beobachtete ich, wie meine Cousins und Cousinen die Knochen unserer Großmutter mit ihren Händen aus der noch warmen Asche herausholten und sie in eine Schale mit Milch legten. Diese Schale wurde meinem Vater übergeben, damit er die Knochen seiner Mutter mit seinen Händen rituell waschen sollte. Die meisten dieser Rituale dienen wohl dem Zweck, den Übergang der Verstorbenen in das nächste Leben zu erleichtern. Es ist daher wichtig, wie, wann und von wem sie durchgeführt werden.
Die gereinigten Überreste meiner Ammaji wurden in eine Plastiktüte gegeben und wir fuhren zum Fluss Ganga.
Bei dieser Fahrt hielt mein Vater die Überreste seiner Mutter in seinem Schoß und bereitete sich darauf vor, sie den heiligen Wassern zu übergeben. Wir mieteten ein Boot, das uns in die Mitte des Flusses brachte, und streuten dort ihre Überreste und Rosenblätter in den Fluss.
Wenig später kauften wir bei einem Essensstand um die 50 Mahlzeiten und verteilten diese an die ärmere Bevölkerung des am Fluss liegenden Dorfes. Ein Moment, der meiner frommen Ammaji sehr gefallen hätte und bei dem wir als Familie aus unserer Trauer in den Kreislauf des Lebens zurückgeholt wurden. Auf dem Rückweg hörten wir die Lieblingssongs meiner Großmutter im Auto. Die Songs hatte meine Cousine in eine Spotify-Playlist gepackt, die mich immer an diese schmerzvolle und wunderschöne Fahrt erinnern wird.
"Es war das erste Mal in unserem Leben, dass unsere Familie an einem Ort war."
Wir blieben noch zwei weitere Wochen in Delhi, in denen meine Cousins und Cousinen Geschichten von unserer gemeinsamen Großmutter erzählten, mit der sie im Gegensatz zu mir aufwachsen durften. In dieser zweiwöchigen Trauerzeit durften uns keine Verwandten besuchen, denn wir sollten uns komplett auf unsere Trauer und die Kernfamilie konzentrieren, was uns viel Raum und Zeit zum Austausch ließ. Es war das erste Mal in unserem Leben, dass unsere Familie an einem Ort war.
Nur ein Jahr später, im April 2021, starb mein Babaji (Großvater) in Delhi an einer COVID-Infektion. Es war der Beginn der zweiten und tödlichsten Infektionswelle in Delhi. Bilder von überfüllten Krankenhäusern und Krematorien in Delhi gingen um die Welt. Inmitten all dieser Ereignisse versuchte meine Familie, die selbst mit COVID infiziert war, die Bestattungsriten ohne Hilfe durchzuführen. Ein paar Tage später hätten mein Cousin und meine Cousine fast ihre Eltern wegen COVID verloren.
In dieser Zeit saß der Rest der Familie, der tausende Kilometer oder durch die Ausgangssperren von ihnen getrennt war, tagelang am Handy, angstvoll und gleichzeitig sehnsüchtig auf die nächste Nachricht wartend. Schuldgefühle und die Angst um unsere Familie überdeckten darum auch die Trauer um unseren Babaji.
"Ich versuche hier nun meinen eigenen Weg zu finden"
Vor einem Jahr war ich das erste Mal seit dem Tod meines Babajis wieder in Indien, und es war mir ein tiefes Bedürfnis, den Tempel meiner Großeltern mit meinem Vater aufzusuchen und uns dort von ihnen zu verabschieden.
Beim Schreiben dieses Textes merke ich, wie der Tod meiner Ammaji am meisten Platz einnimmt. Und so ist es auch für mich persönlich. Nach ihrem Tod kam ich nach Deutschland, die Pandemie brach aus und ich habe einige Dinge in meinem Leben überdacht und umgeworfen.
Am meisten hat mich persönlich die Frage beschäftigt, wie ich die Bestattungsrituale für meinen Vater in Deutschland umsetzen könnte. Aus der Erfahrung der Bestattungen, die ich bisher in Deutschland gesehen hatte, erkannte ich, dass es einige Hürden geben würde. Zudem werde ich als einzige Tochter und mit so gut wie keinem familiären Netzwerk hier in Deutschland, wenn es so weit kommt, relativ auf mich allein gestellt sein. Da ich nur wenig mit dem religiösen Glauben und den kulturellen Praktiken meiner indischen Familie aufgewachsen bin, und das Thema Tod und Sterben in meiner Familie ein ziemlich großes Tabu ist, versuche ich hier nun meinen eigenen Weg zu finden.
Dieser Newsletter ist ein Teil dieses Weges und ich freue mich sehr, dass du dabei bist.
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