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4 Min. Lesezeit Persönliche Geschichten

Wahid Nader: über Poesie, die Heimat und Fremde vereint

Die Kraft des Wortes verbindet Menschen, Kulturen und Sprachen. Für Wahid Nader, syrischer Schriftsteller und Übersetzer, ist das geschriebene Wort weit mehr als ein Ausdrucksmittel – es ist eine Brücke, ein Werkzeug des Verstehens und eine Möglichkeit, die eigene Identität zu formen. Seine Werke sp

Wahid Nader: über Poesie, die Heimat und Fremde vereint
Fotograf*in: Emad Almansour

Zwischen den Welten der Elbe und des Euphrats, zwischen den Bergen Syriens und den Städten Deutschlands, entfaltet sich das Leben eines Dichters, der die Kraft des Wortes als Verbindung zweier Kulturen versteht:Wahid Nader. Geprägt von einer Kindheit im syrischen Mittelmeergebirge, inmitten von Traditionen und Natur, spiegelt sich diese Ursprünglichkeit in seinen Gedichten wider – nicht als bloße Erinnerung, sondern als lebendige Symbolik für Verbundenheit und Authentizität.

„Ich durfte unseren Tieren bei der Geburt helfen und mit dem Kalb die erste Milch teilen“, erzählt er, als er an die prägenden Erfahrungen seiner Kindheit denkt. Bilder wie diese sind in seinen Gedichten keine bloßen Szenen, sondern Ausdruck einer tiefen Verbindung zu seiner Herkunft.

Der Dichter zog in den 1970er Jahren nach Deutschland, wo er inzwischen seit fast 40 Jahren lebt. Doch die Verbindung zu seinem Dorf bleibt bestehen, auch wenn diese heute eine eher spirituelle Dimension hat. „Nach dem Tod meiner Eltern hat das Verlangen, das Dorf zu besuchen, nachgelassen. Trotzdem trage ich die Erde meiner Kindheit in mir“, sagt er. Dieser innere Konflikt zwischen Heimat und Ferne zieht sich wie ein roter Faden durch sein literarisches Schaffen.

Wahid Nader: Verbrennen der Myrte

Vom Ingenieur zum Lyriker

„Das Schreiben war für mich nie Zuflucht, sondern eine Methode, die Welt und mich selbst zu verstehen und zu beeinflussen“, erklärt Wahid Nader. Sein erstes Werk, der Lyrikband „Schenk uns deinen Hunger ein“, entstand aus einer Auseinandersetzung über soziale Gerechtigkeit. Später, während seines Ingenieurstudiums in Syrien, etablierte er sich als Dichter. Mit 16 Jahren schrieb er seine ersten Gedichte und gewann 1978 den Lyrikpreis an syrischen Universitäten. Trotz seines naturwissenschaftlichen Hintergrunds blieb die Literatur seine wahre Leidenschaft.

In Deutschland setzte Wahid seine Karriere fort und publizierte mehrere Werke in deutscher Sprache. „Ich weide Sterne auf trunkener Nacht“ (2010) und „Verbrennen der Myrte“ (2019) sind Lyrikbände, die die Verschmelzung seiner syrischen Wurzeln mit der deutschen Kultur zeigen. „Die arabische Sprache ist der Baum in mir, die deutsche lässt sich auf seinen Zweigen nieder wie Schwärme von Staren“, schreibt er in einem Gedicht.

Zwischen den Sprachen ist Wahid Nader ein Wanderer. Seine Werke entstehen oft spontan auf Arabisch oder Deutsch, je nachdem, welche Sprache die Bilder und Ideen eines Moments besser einfängt. „Ich nenne beide meine Muttersprachen“, betont er. Diese Zweisprachigkeit ermöglicht es ihm, sowohl arabische als auch deutsche Leser*innen anzusprechen und als kulturelle Brücke zu fungieren.

Sein erstes deutsches Gedicht „Du, mein Olivenbaum“ schrieb Wahid 1988 in einer Zeit der tiefen Fremdheit und aufkeimenden Liebe. Die arabische Poesie prägt bis heute seinen literarischen Stil. „Ich fühle die Sprache rhythmisch, poetisch und philosophisch gleichzeitig“, erklärt er. Dieses orientalische Erbe durchzieht seine Werke, die oft von Dualismen und vielschichtigen Bedeutungen geprägt sind.

Während seiner Jugend ließen ihn arabische Klassiker wie Almaarri und moderne Größen wie Mahmoud Darwisch die Liebe zur Dichtkunst entdecken. In Deutschland inspirierte ihn die Literatur von Goethe, Schiller und Herta Müller. Besonders prägend waren jedoch die kritischen Diskussionen in Schreibwerkstätten und literarischen Kolloquien. Diese Interaktionen halfen ihm, sein Talent zu schärfen und neue Perspektiven in die eigene Arbeit einzubringen. Seine Texte reifen über Zeit und finden oft erst nach Jahren ihren Abschluss, was für ihn ein zentraler Prozess des literarischen Schaffens ist.

Eine zweite Heimat an der Elbe

Heute betrachtet Wahid Magdeburg, die Stadt an der Elbe, als seine zweite Heimat. Dennoch bleibt Syrien für ihn mehr als nur eine Erinnerung. In seinen Gedichten lebt die alte Heimat weiter, sei es durch den Duft von Olivenöl oder die Farben eines Sonnenuntergangs über dem Mittelmeer. „Die politischen Ereignisse, die Subkulturen und die Lebenswege eines jungen Menschen in Syrien – all das floss direkt in meine Texte ein“, reflektiert er. „Nach und nach wird die zweite Heimat realer, die erste wandelt sich zu einem surrealen Gebilde, das in ein Gedicht passt“, fügt er hinzu. Sein Leben als Migrant hat ihn gelehrt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und diese Perspektive teilt er mit seinen Leser*innen.

Wie für viele Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte war die deutsche Sprache für Wahid anfangs eine Hürde – eine fremde Welt, die ihn ausschloss. „Dass du die Sprache deiner Mitmenschen nicht verstehst, ist eine Art der Befremdung“, beschreibt er. Doch der Wunsch, sich mitzuteilen, zu protestieren und geliebt zu werden, trieb ihn an. Heute kommuniziert er mit seinen Enkelkindern auf Deutsch, einer Sprache, die er sich erobert hat. Sein Gedicht „Die Fremde“ beschreibt eindrücklich diesen Weg vom Gefühl der Entfremdung zur Akzeptanz der Fremde als Heimat.

Poesie und die Kunst der Übersetzung

Doch Wahid Nader ist nicht nur Schöpfer von Text, sondern übersetzt auch. Für ihn bleibt das Original stets die authentischste Form der Literatur. Doch wenn Übersetzungen notwendig sind, erkennt er den Wert der Übersetzer*innen als „vertrauenswürdige Verräter“ an, die die Seele eines Textes neu interpretieren und für andere zugänglich machen. Mit seiner über 30-jährigen Erfahrung hat er Werke namhafter deutscher Autoren wie Herta Müller und Erich Fried ins Arabische übertragen – und umgekehrt arabische Literatur ins Deutsche gebracht. Aktuell arbeitet er an der arabischen Übersetzung eines Gedichtbands des deutschen Autors André Schinkel sowie an neuen arabischen und deutschen Werken. In seinem kommenden deutschen Buch plant er, neue literarische Formen auszuprobieren.

Wahid sieht die Literatur als eine Stimme des Widerstands und der Reflexion. Besonders in Zeiten von Flucht und Migration glaubt er an die Bedeutung literarischer Werke, um die Erfahrungen und Tragödien von Geflüchteten zu dokumentieren. In seinem Buch „Verbrennen der Myrte“ thematisiert er Krieg, Flucht und das Schicksal derer, die auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren. Auch in seinem Libretto für das „Internationale Chorfest Magdeburg 2022“ setzte er sich mit der Fluchtproblematik auseinander. Die Insel Lesbos, als Symbol für Hoffnung und Schmerz, bildete den Mittelpunkt der Komposition.

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