Heute geht es um ein Gefühl, das jeden Menschen betrifft und prägt: Es geht um Trauer. Ich möchte konkret die Migrationstrauer (migratory grief) beleuchten – ein Gefühl, das wir vielleicht alle selbst kennen, aber ein Begriff, der uns selten oder gar nicht begegnet.
Was bedeutet Trauer?
Trauer ist die natürliche Reaktion auf einen Verlust, oft durch den Tod einer nahestehenden Person. Aber Trauer kann auch andere Arten des Verlustes umfassen, wie den Verlust eines Körperteils oder auch von Lebensumständen und Heimat. Es wird zwischen Trauerfall (bereavement), emotionalen Reaktionen (grief), Verhaltensweisen des Trauerns (mourning) und körperlichen Symptomen unterschieden.
Trauer ist ein vielschichtiges Phänomen, das je nach Person und Kultur unterschiedlich ausgeprägt ist. Menschen, die migrieren, sind vielen Belastungen ausgesetzt, die ihre psychische Gesundheit beeinflussen können. Dazu gehören der Verlust von kulturellen Normen, religiösen Traditionen und sozialen Netzwerken sowie die Anpassung an eine neue Kultur und Veränderungen der eigenen Identität. Tatsächlich ist die Rate psychischer Erkrankungen in einigen Gruppen mit Migrationsbiografien erhöht.
Einwanderung und Exil können als soziale Traumata eingestuft werden
Das Individuum ist einer sicheren Umgebung beraubt, in der es sein Leben hätte weiterführen können. Der Prozess der Trauer ist ein notwendiger Schritt, um sich mit dem „Weiterleben“ zu verbinden. Eine weitere psychische Erfahrung in der Migration ist die Nostalgie; sie hilft der eingewanderten Person, die Aggressionen abzuwehren, die aus möglichen Frustrationen resultieren. Das Gefühl der Nostalgie kann auch dazu dienen, das Ego vor Unzulänglichkeiten zu schützen.
Die komplexen Komponenten der Nostalgie bestehen aus positiven Gefühlen wie Freude und Dankbarkeit, verbunden mit Trauer über den damit verbundenen Verlust von Sicherheit, Vertrautheit und historischer Kontinuität. Zu anderen Zeiten kann sich Nostalgie nicht entwickeln, insbesondere bei erzwungener Migration oder im Exil. In diesem Fall gerät das Individuum in einen depressiven Zustand mit begleitenden Gefühlen von Selbstmitleid, Groll, Neid und Schuld (migration guilt, remember?), was die Entwicklung des Trauerprozesses verhindert.
Um mit diesen schmerzhaften Erfahrungen umzugehen, greift die Person auf verbindende Objekte oder Phänomene zurück, die ihr helfen, den Kontakt mit der Vergangenheit aufrechtzuerhalten, während sie sich an ihre neue Umgebung anpasst.
Einige der allgemeinen Merkmale der Migration sind komplexe psychosoziale Prozesse, die mit tiefgreifenden Verlusten einhergehen und sich langfristig auf den Menschen auswirken. Zuweilen kann es zu einer psychischen Erschöpfung kommen, unter anderem wenn eine Person als Migrantin oder Exilantin in einem neuen Land ankommt. Unabhängig von den Umständen bringen diese Veränderungen Zeiten der Desorganisation, des Schmerzes und der Frustration mit sich und können ein katastrophales Gefühl des Verlustes hervorrufen.
Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit ist ein emotionaler Selbstzustand. Infolge des ständigen Kontakts mit einer neuen Kultur setzt die Migrationserfahrung einen Prozess in Gang, der zur Veränderung der inneren Strukturen und der verinnerlichten Objektbeziehungen führt. Die anfängliche Erfahrung des sogenannten Kulturschocks bei der Einwanderung ist ein reaktiver Prozess, der sich aus den Auswirkungen einer neuen Kultur auf diejenigen ergibt, die versuchen, als Neuankömmlinge mit ihr zu verschmelzen. Der Kulturschock stellt die allgemeine Angemessenheit des Funktionierens der Persönlichkeit auf eine harte Probe, wird von Trauer um die verlassene Kultur begleitet und bedroht die Identität des neu angekommenen, migrierten Menschen ernsthaft.
Die Trennung kann als traumatisch eingestuft werden, da ein Trauma per Definition etwas ist, das einen Organismus durch seine unerwartete Plötzlichkeit überwältigt. Ist diese erste Reaktion jedoch überwunden, kann die Einwanderungserfahrung auch den Charakter und die Widerstandsfähigkeit stärken. Sie kann ein Prozess neuer Möglichkeiten und einer hoffnungsvollen Zukunft sein.
Kann Trauer auch Potentiale bieten?
Trauer ist in der Regel negativ konnotiert, wiegt schwer und färbt unsere Wahrnehmung der Realität. Oftmals isolieren wir uns, möchten andere nicht zusätzlich belasten, können uns selbst kaum ausstehen und möchten, dass es einfach vorbeigeht. Doch welche Potentiale in der Trauer stecken, erkennen wir oft erst im Nachhinein oder leider gar nicht.
Denn wir kommen aus Kulturen, in denen Trauer eigentlich Zusammenhalt bedeutet. Ob füreinander kochen, einkaufen oder gemeinsam Tee trinken … Unterstützung wird in Form von Gemeinschaft umgesetzt und gelebt.
Da uns genau diese Gemeinschaft oft genommen wird, übersehen wir, welche Gemeinschaft wir schaffen können. Wir können einander unabhängig von Verwandtschaft und kulturellen Gemeinsamkeiten Freude bereiten, Arbeit abnehmen und zuhören. Nachbarschaft und Nächstenliebe haben nicht umsonst einen so hohen Stellenwert. Es ist wichtig, den Kummer der anderen anzuerkennen und ihnen zu zeigen, dass ihre Gefühle legitim sind.
It takes a village.
Bist du bereits mit den Begriffen des migratory grief, mourning, bereavement in Verbindung gekommen?
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Liebste Grüße
Zara