Du fragst mich nach meiner Fluchtgeschichte. Ich werde versuchen, dir die vielen Puzzleteile in meinem Kopf zu erzählen. Ob eine Geschichte daraus wird? Probieren wir es mal.
Ich bin 1967 geboren und 1973 eingeschult worden. Das erste politische Ereignis, an das ich mich erinnern kann, war eine Spielzeug-Sammelaktion für chilenische Kinder, als in Chile die Militärdiktatur die Macht ergriffen hat. Und überall hing das Bild von Luis Corvalan1. Daran erinnere ich mich noch ziemlich gut.
Ich war mit vollem Herzen dabei. Viel später habe ich erfahren, wie Luis Corvalan in der DDR und der UdSSR bespitzelt worden war; er hat wahrscheinlich keinen einzigen Schritt alleine machen können. Auch wenn sein Leben gerettet war, war das sicherlich nicht, wie er sich den Sozialismus vorgestellt hatte.
Die politische Führungsriege in der DDR hatte so große Angst, dass Kommunist*innen und andere Linke, die den Klassenkampf tatsächlich noch gelebt haben, ihre eigenen Ideen von einer neuen Gesellschaft in diese piefige DDR tragen könnten. Sie hätten womöglich noch die Leute dazu gebracht, ihre Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und über Veränderungen nachzudenken.
Diese geistige Enge
In meiner Kindheit und Jugend war die DDR total versteinert. Das war typisch für diese Zeit: Alles war komplett erstarrt, alle Denk- und Handlungsmuster waren völlig unbeweglich. Je älter ich wurde, desto stärker und unangenehmer habe ich diese Einengung wahrgenommen. Ich war eigentlich gut in der Schule und bin gerne hingegangen. Es fiel mir leicht. Aber mit zunehmendem Alter bin ich immer mehr angeeckt. Denn je mehr ich selbst nachdachte, je vielschichtiger meine Wahrnehmung von der Welt wurde, desto schwerer fiel es mir, mir die Floskeln einzuprägen, die man von uns hören wollte.
Einmal habe ich in der Schule gefragt, warum sich die Menschen nicht wie unsere historischen Vorbilder gegen die Sachen wehren würden, die sie ungerecht finden. Zum Beispiel mit Demonstrationen oder Streiks. Die Antwort der Lehrerin darauf klang misstrauisch und unhinterfragbar:
Durch die sozialistische Revolution seien die Klassengegensätze ja abgeschafft worden. In einer solchen Gesellschaft seien also erstens gar keine Demonstrationen mehr nötig, und zweitens seien sie rückschrittlich und konterrevolutionär, denn sie würden dem vorwärts strebenden Sozialismus schaden. Sie seien sogar extrem gefährlich, denn sie spielten dem Klassenfeind in die Hände. Diese geistige Enge war es letztlich, die mich dazu gebracht hat, aus diesem Land zu fliehen.
Wie war es zu dieser starren Gesellschaft gekommen?
Auch die konkreten Bedrohungen, die sich hinter dieser Geisteshaltung verbargen, habe ich zunehmend wahrgenommen: Schulverweise, Rügen vor dem Fahnenappell, in der Vergangenheit Armee-Einmärsche, verschwundene Menschen... Und ich wollte wissen: Wie war es zu dieser starren Gesellschaft gekommen?
Ich war so etwa 17, als in mein Bewusstsein gedrungen ist, dass es wirklich einen Hitler-Stalin-Pakt gegeben hatte, dass es Lager gegeben hatte in der Sowjetunion, die Gulags. Dass es unzählige Deportationen und Hinrichtungen in der Zeit der sogenannten Säuberungen gegeben hatte.
Lager hatte ich bis dahin nur als faschistische KZs gekannt. Ich war vollkommen erschüttert. Später habe ich einigen meiner engsten Freunde unter dem Siegel der Verschwiegenheit von meinen Erkenntnissen berichtet. Aber da ging es ihnen wie mir vorher: Sie wollten und konnten es mir nicht glauben. Die offizielle Geschichtsschreibung, alles, was wir in der Schule gelernt haben und was in der Zeitung stand, war einfach so komplett anders.
Verbotene Bücher und kritische Fragen
In meiner Studienzeit habe ich dann ein paar verbotene Bücher in die Hand bekommen, die sich damit beschäftigten: Ich glaube, es waren Solschenizyn, Orwell, Stefan Heym – man hatte oft nur 24 Stunden Zeit, dann mussten sie weitergegeben werden. Auch aus dem Radio habe ich Informationen bezogen.
Meine Eltern haben für mich eine große Rolle gespielt. Sie haben mir beigebracht, alles grundsätzlich kritisch zu hinterfragen. Vor allem mein Vater, der als philosophisch interessierter Naturwissenschaftler sehr großen Wert darauf gelegt hat, ist mir bis heute einer der wichtigsten und wertvollsten Diskussionspartner über politische Themen. Solche Diskussionen fanden in meiner Jugend natürlich immer mit dem Kommentar statt, ich solle das bloß nicht weiter erzählen.
Leben auf gepackten Koffern
Westkontakte waren heikel. Mein Vater hatte einen Bruder, der im Westen lebte, und das war immer wie ein Makel in seiner Biografie. Mehrmals hatte man ihn dazu gedrängt, den Kontakt zu diesem Bruder abzubrechen. Mit Andeutungen, dann könne er in der Hierarchie seines Betriebes weiter nach oben steigen. Das hat er aber nie gemacht.
So wurde es von Jahr zu Jahr ungemütlicher für mich. Es fühlte sich so an, als würde die Schlinge um den Hals immer ein bisschen enger, je bewegter ich wurde. Ein Freund hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Er verlor sofort das Recht, an der Hochschule zu arbeiten. So wurde er, wie so viele Dissident*innen in der DDR, Heizer.
Der Rest war Warten auf den Bescheid. Das konnte ein Jahre lang dauern oder viele, viele Jahre. Und wenn du den Bescheid bekommen hast, musste plötzlich alles ganz schnell gehen. Also lebten die Leute mit einem Ausreiseantrag auf gepackten Koffern, wörtlich wie auch im übertragenen Sinne. Das hat es ihnen fast unmöglich gemacht, Beziehungen aufrecht zu halten.
Hoffnung und Resignation
In Dresden, wo ich ab 1987 studiert habe, gab es eine relativ große Gruppe von jungen Leuten, die Ausreiseanträge gestellt hatten und sehr DDR-kritisch waren. Manche der Kritiken teilte ich, manche nicht. Auf jeden Fall stellte sich jetzt auch mir die Frage, ob ich bleiben möchte oder gehen. Ich habe mit dieser Frage lange gerungen.
Ich wollte - wie es den meisten Menschen in solchen Situationen geht - eigentlich nicht weg. Hier war ja mein Zuhause. Und aus Trotz. Ich wollte das hier ändern und nicht einfach den Schwanz einziehen. Immerhin war mittlerweile die Zeit der Perestroika3 in der Sowjetunion angebrochen. Sie hatte eine unwahrscheinliche Strahlkraft. Plötzlich bewegte sich das Unbewegliche, das machte so viel Hoffnung!
Dann aber hat sich die bisher so sowjetunionstreue politische Führung in der DDR klar von der Perestroika abgewandt. Sie hat sich nicht Gorbatschow4 angeschlossen. Die Schrauben wurden enger gezogen; alles sollte so bleiben, wie es war.
Ungarn will seine Grenzen öffnen
Mein Entschluss, aus der DDR zu fliehen, stand ab 1988 fest. Und das, obwohl es mittlerweile deutliche Veränderungen gab: die Ausweitung des Besuchsrechts bei Verwandten in der BRD, die plötzliche Diskussionsfreudigkeit einiger Mitstudent*innen, die Rosa-Luxemburg-Demo in Berlin und danach immer wieder Demonstrationen im Land trotz der großen Angst vor den Repressalien, eine beginnende kritische Ökoszene, die etwa das Waldsterben im Erzgebirge oder den Zustand der Flüsse beobachtete und anprangerte, die Aktivitäten der oppositionellen Gruppen bei den Wahlen 19895
Im Mai 1989 stand dann in der Zeitung, dass Ungarn seine Grenzen nach Österreich öffnen will. Meine Eltern, die ich in meine Fluchtpläne eingeweiht hatte, haben sich mit mir zusammengesetzt und wir haben beratschlagt, was daraus für mich folgen würde. Es gab in unseren Augen nur zwei Optionen: Entweder würden schlagartig so viele Menschen diese Chance nutzen, um – und sei es nur aus Neugier – den Eisernen Vorhang zu durchschreiten, dass die DDR in sich zusammenfallen würde wie ein Kartenhaus.
Um ein Vielfaches wahrscheinlicher aber war, dass wir für Ungarn ab sofort kein Visum mehr bekommen würden. Auch dann würde die DDR, schon rein aus ökonomischen Gründen, irgendwann zusammenbrechen. Aber das würde sich vielleicht auch noch 20 Jahre hinziehen – 20 Jahre, in denen die in die Enge getriebene politische Riege um so repressiver vorgehen würde. Dann würde ich 42 Jahre alt sein, in meine Augen quasi schon tot! So lange wollte ich nicht warten.
Hart wie Stein
Ich musste also versuchen, über diese ungarisch-österreichische Grenze zu kommen. Auch wenn ich wusste: Wenn ich dabei erwischt würde, würde ich in den Knast kommen.6 Ich habe versucht, mich darauf vorzubereiten, dass ich im Knast vielleicht mit einer Kriminellen in einer Zelle sitzen würde, die für ein paar kleine Privilegien bereit wäre, mich zusätzlich zu schikanieren. Darauf, dass man mir die schönen langen Haare zur Glatze scheren würde. Und das alles für mehrere Jahre. Ich habe versucht, mich zu einem Stein zu machen. Ich war nie in meinem Leben härter als damals, mit 22.
Noch im Monat der neuen Nachrichten aus Ungarn, im Mai 89, habe ich in Berlin Freund*innen aus dem Westen getroffen. Ich habe sie gefragt, ob sie dieses Jahr einen Urlaub in Ungarn machen könnten und mich mit rüber nehmen würden? Die waren genauso jung wie ich, teils sogar jünger. Das muss man sich mal vorstellen! Die Bedenkzeit war vielleicht eine Viertelstunde, dann haben sie „Ja“ gesagt. Wir haben Zeit und Ort verabredet und noch, was wir tun würden, wenn einer von uns nicht zu dieser Zeit dort wäre. Das war's.
Brief-Geschichten
Ich war zu dieser Zeit schon fast fertig mit dem Studium. Meinen Studiumsnachweis habe ich ihnen gleich mitgegeben. Er würde für meinen Neustart wichtig sein. Und ich wollte nicht mit diesen Papieren die Grenzen passieren müssen. Weil sie mich jedes Jahr, in jedem Sommerurlaub, an der Grenze gefilzt haben. Sogar den Kugelschreiber haben sie mir auseinander genommen und mich verdächtigt, er könne eine Waffe sein.
Die nächste Frage war: Wie schaffe ich es abzuhauen, ohne dass meine Eltern dafür allzu sehr bestraft würden? Dass mein Vater für mich auf seine leitende Position verzichtet hat, habe ich erst sehr spät verstanden. Der Plan war ein Brief, in dem ich behaupten würde, ich hätte mich im Urlaub in einen Wessi verliebt und würde nur deswegen, aus übergroßer Liebe und trotz meiner moralischen Bedenken, mein Heimatland verlassen. Diesen Brief würde ich an einem verabredeten Tag abschicken. Am gleichen Tag sollte ein Freund meine echten Abschiedsbriefe an die anderen Freund*innen abschicken, so dass sie bereits angekommen wären, bevor die Stasi alle meine Briefe abfangen würde.
Große Liebe und zerrissenes Herz
Das hat wunderbar geklappt. Meine Mutter konnte sich vor Gericht bei dem Vorwurf, sie hätte mich wohl falsch erzogen, sonst wäre ihre Tochter ja wohl nicht republikflüchtig geworden, auf das Argument der großen Liebe zurückziehen. Und selbst die Stasi soll sich bedankt haben, weil der Brief sowohl mit Datum als auch mit einer (fiktiven) Adresse versehen war – das erleichtere die Aktenablage so ungemein!
Aber zurück zu meiner Flucht. Ich saß im Zug und hatte ein Fahrrad mit und einen Rucksack, wie immer. Der Beamte fragte mich wie immer: Fahren sie alleine? Ich sagte wie immer: Ja. Und er: Na dann, gute Fahrt!
Das war ja die Höhe! Ich hatte extra nichts, wirklich absolut nichts eingepackt, was mich verdächtig machen könnte: Kein einziges Foto meiner Lieben, kein Souvenir, nichts! Und dann keine Kontrolle! Und warum ausgerechnet in diesem Jahr: Konnte er sich etwa denken, was ich vorhatte?
In Ungarn habe ich dann mein Fahrrad, meinen geliebten „Wolfgang“, stehen lassen, unabgeschlossen natürlich. Ich habe mich mit meinen Freund*innen am verabredeten Ort getroffen. Einer meiner engsten Freunde war dabei. Es war unser Abschied, vielleicht für immer. Die anderen Lieben hatte ich in den Wochen davor schon in meinem Herzen zu Grabe getragen. Es war herzzerreißend.
Unterm Gepäck durch die Vollmondnacht
Ich hatte eigentlich im Kofferraum über die ungarisch-österreichische Grenze mitfahren wollen, aber meine Freund*innen hatten bei der Hinfahrt beobachtet, dass bei jedem zweiten Auto der Kofferraum kontrolliert wurde. Also habe ich mich nachts – um dem Grenzstau zu entgehen - bei glücklicherweise guter Vollmondsicht im Wald auf den Dachgarten schnallen lassen.
Mit dunkler, alle Glieder und die Haare bedeckender Kleidung, zwei Hustenbonbons im Ärmel, auf einer Stoffdecke, durch die ich atmen konnte, und mit Gepäck und allerlei Krimskrams auf mir drauf. Es hat schon nach nach einer kurzen Weile extrem weh getan, ich war ja gegen das Abrutschen sehr fest angeschnallt, da kam kaum noch Blut durch meine Adern. Die Fahrt bis zur Grenze kam mir ewig vor. In Wirklichkeit waren es wohl nicht mehr als 20 Minuten.
Wie ein Zeichen für das Wunder
Als wir an der Grenze angekommen sind, war die Schlange wie erwartet nicht so lang. Ich habe oben Blut und Wasser geschwitzt. Ich war nass. Und dann kam das Klopfen von unten. Das bedeutete, ich solle besonders still sein. Die Grenzbeamten, es waren zwei Stimmen, haben ihre üblichen Fragen gestellt und meinten dann, sie würden jetzt gern das Auto kontrollieren.
Zuerst solle die Fahrerin mal den Kofferraum aufmachen. Ich hatte ein Gefühl, als würde mein Herz stillstehen. Sie haben dann alles durchsucht, auch das Dach. Sie haben auf den leeren Karton auf meiner Schulter geklopft, in die Schlafsäcke an meinem Rücken gestoßen, an den Kraxen7 zu meinen Füßen herum genestelt. Für den Bruchteil einer Sekunde hat der eine dabei meine Ferse berührt. Ich werde nie erfahren, ob er etwas gemerkt hat. Dann sind wir losgefahren. Yippie!
Aber nein, es gab ja noch den Übergang zu Österreich! Und niemand von uns hatte eine Ahnung, ob Österreich nicht vielleicht auch an die DDR ausliefert. Oder was mit Fluchthelfer*innen passieren würde. Wir waren so jung, so ahnungslos, aber auch so mutig!
Wir sind also noch eine gefühlte Ewigkeit in Österreich herumgegurkt, bevor meine Freund*innen eine gute Stelle im Wald ausfindig gemacht haben. Ich war schon fast ohnmächtig vor Schmerzen. Dann bin ich runter geklettert - und stand wie neben mir. Dieses Waldstück war also Österreich. Und plötzlich begann eine totale Mondfinsternis. Es war der 17. August 1989. Der Mond war riesig und hatte einen ganz bunten Hof. Es war wie ein Zeichen für das Wunder, das geschehen war: Ich hatte es geschafft.
Erste West-Zigaretten miteinander geteilt
Am nächsten Morgen sind wir zur Deutschen Botschaft in Wien gefahren. Genau an diesem Tag, so hatten wir noch in Ungarn im Radio gehört, sollte sie nämlich für Flüchtlinge aus der DDR geöffnet werden. Als ich ankam, saßen dort im Hof schon zirka sieben andere Geflüchtete aus der DDR. Zwei waren am ganzen Körper zerkratzt.
Es gab an diesem Morgen sogar kühle Getränke für uns. Die späteren Bilder aus der Botschaft sahen ganz anders aus. Sie war überfüllt mit Flüchtlingen. Wir Sieben aber saßen an diesem Tag um einen kleinen Tisch herum, jeder mit seinem eigenen Kopfkino beschäftigt und eigentlich unfähig, miteinander zu reden. Aber wir haben die ersten West-Zigaretten miteinander geteilt.
Die Botschaft bot mir an, hier so lange zu bleiben, bis es einen Sonderzug für uns in die BRD gäbe. Ich verzichtete und bin mit meinen Freund*innen weitergefahren. An der österreichisch-deutschen Grenze haben alle ihren Pass hochgehalten. Ich habe meinen grünen DDR-Sozialversicherungsausweis hochgehalten, der sah dem bundesdeutschen Pass ziemlich ähnlich. Ohne anzuhalten durften wir weiterfahren. Das war krass.
Wir sind in eine kleine Stadt bei Stuttgart zu meiner Freundin gefahren. Im Fernsehen habe ich dort am nächsten Tag einen Bericht über die erste Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze gesehen.8 Was sollte das denn? Waren nicht fast alle gerade noch ganz zufrieden gewesen mit der DDR? Deswegen hatte ich mich doch überhaupt nur dieser Strapaze unterzogen! Sonst hätten wir doch gemeinsam das System dort ändern können! Ich war total sauer.
Wie ein übersättigter Farbfilm
In der kleinen Stadt, in der meine Freundin im März gestrandet war, wollte ich nicht bleiben. Dass der „goldene Westen“ so golden nicht war, darauf war ich vorbereitet. Aber diese geschleckte Sauberkeit, wie in einer Plastiklandschaft für eine Modelleisenbahn! Dieser zur Schau getragene Konsum!
Schon auf der Fahrt hierher war die Landschaft an meinen Augen vorüber geglitten wie ein übersättigter Farbfilm. In den Städten überall abstoßende Werbung. Es war verstörend. Mir wurde klar: Es würde mir schwer fallen, in der BRD Fuß zu fassen. Aber wenn alle Städte so wären wie diese Stadt, müsste ich sofort ins nächste Land weiterziehen.
Meine zweite Probestation war Bremen, wo die eine Freundin wohnte, die mich über die Grenze gebracht hatte. Das letzte Stück bin ich mit einem Mann getrampt, der bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt war. Er wirkte total nett und offen. Und als er nach mir gefragt hat, habe ich ihm trotz anderer Vorsätze die Wahrheit gesagt. Da hat er mich bis zum Haus meiner Freundin gefahren.
Er hat extra noch einen Umweg gemacht, um mir auch gleich schon Tenever, eine sozialpolitische und architektonische Sünde der Stadt, zu zeigen. Er hat viel erklärt, wovon ich später noch gezehrt habe. Es war wie ein Ausflug in die Stadtgeschichte Bremens mit liebevoll-kritischem Blick. Zum Abschied wollte er mir ein Geschenk geben, hatte aber nur Werbekartons der DB dabei. Darin war ein Bumerang aus Plastik und ein Handtuch mit der Aufschrift DB 1989. Das Handtuch habe ich bis heute.
Das war ein guter Start, und auch ansonsten hat mir Bremen gleich viel besser gefallen als der Süden. Überall waren Graffiti. Es war sichtbar, dass hier Menschen lebten und ihre Anliegen selbst in die Hand nahmen.
Ich wusste, dass ich nur einen Monat bei meiner Freundin würde leben können, dann wollte sie eine lange Reise nach Brasilien antreten, die Wohnung war schon weitervermietet. Das war eine harte Zeit für mich. Ich habe ein Zimmer gesucht, habe mich angemeldet, den Ausweis und diverse andere offenbar notwendige Papiere beantragt. Das kostete alles Geld, schon allein die vielen Fotos für die Ausweise. Aber Geld hatte ich keins. Widerwillig bin ich also nach zwei Wochen zum Sozialamt gegangen. Dort hielt man es leider nicht für nötig, mir zu erklären, auf welche Leistungen ich Anspruch hätte.
Niemand wollte mich haben
Dass das Sozialamt zusätzlich zum Lebensunterhalt auch die Miete übernimmt, wusste ich nicht. Ich dachte also, dass ich auf keinen Fall mehr als 100-150 Mark pro Monat ausgeben könnte, als ich auf Zimmersuche ging. Du kannst dir vielleicht vorstellen, welche Art von Zimmern ich mir da angeguckt habe - wahre Kellerlöcher, und bestimmte Dienstleistungen sollten ab und zu auch noch inbegriffen sein.
In den Vorstellungsgesprächen der Studi-WGs kam ich nicht gut an: Niemand wollte mich haben. Mir ging es schlecht. Ich habe Unglück ausgeatmet, war weder lustig noch unterhaltsam. Ich war für ihre Augen fremdartig gekleidet, habe falsche Wörter benutzt. Es war meine Muttersprache, aber es war doch nicht meine Sprache. Die feinen Bedeutungsverschiebungen von Ost nach West habe ich erst später nach und nach erlernt.
Wohnheim als kleines Universum
Ein Zuständiger für die Studierenden-Wohnheime hatte dann Erbarmen und hat mich außer der Reihe – ich stand eigentlich auf der Warteliste bei Nummer 172 oder so – in eine 6er-WG gesteckt. Das war ein großer Glücksmoment für mich. In diesem Wohnheim habe ich fünf Jahre gelebt. Es war wie ein kleines Universum für sich, und mit den aus aller Welt hier zusammen gekommenen Bewohner*innen (es gab nicht viele Deutsche) war ich sehr glücklich.
Das Bremer Sozialamt hat mich dann auf das Begrüßungsgeld aufmerksam gemacht, allerdings behauptet, es sei dafür nicht zuständig (was eine Lüge war – allerdings eine, die der Stadt Kosten ersparte). Ich müsse dafür nach Gießen ins Auffanglager. Nun stand gerade täglich in allen Zeitungen, dass die Auffanglager von Geflüchteten überquollen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, Kleider zu spenden und Schlafplätze zur Verfügung zu stellen.
In dieser Situation habe ich mich also auf den Weg nach Gießen gemacht. Dort angekommen, stellte ich mich sofort in die riesige Schlange. Bis zum Abend kam ich nicht mal bis zur Anmeldung. Mit dem allerletzten Bus des Tages wurde ich dann bis ins Sauerland gebracht, wo ich mit einem Dutzend anderer Geflüchteter in einem Wochenendhäuschen übernachten sollte. Es gehörte einem Ehepaar, dass sein Geld mit Pferde-Tourismus verdiente und vom Staat eine satte Prämie für seine Bereitschaft kassiert hatte, uns aufzunehmen.
Ich habe die Nacht reichlich unbequem in einem viel zu kleinen Kinderbett verbracht. Beim Frühstück war das Ehepaar dann neugierig auf Schreckensberichte aus der DDR, stellte seine humanitäre Grundgesinnung zur Schau, war aber nicht bereit, eine Frau mit ihrer Familie telefonieren zu lassen – das würde 23 Pfennige pro Einheit kosten. Die Frau hatte kein Geld. Also haben die anderen frisch Geflüchteten ihre Pfennige zusammengekratzt.
Schlangen im Behördendschungel
So funktioniert ein großer Teil der sogenannten Hilfen leider immer wieder: Vor allem die wohlhabendere Seite verdient daran, bei den Hilfeempfänger*innen selbst kommt nur der allergeringste Teil wirklich an.
Dann ging es im Bus wieder über eine Stunde zurück nach Gießen. Wir mussten wieder Schlange stehen. Insgesamt war ich, glaube ich, vier Tage da. Alle wurden einzeln befragt, ich auch: Wo und wie lange ich zur Schule gegangen sei. Ob ich eine militärische Ausbildung bekommen hätte. Wo das gewesen sei. Ob ich mich an den Ort und die Besetzung dort erinnern könne...
Alles wurde in ein Protokoll aufgenommen. Diese Protokolle stehen der Öffentlichkeit wahrscheinlich nicht zur Verfügung wie heutzutage die alten Stasi-Protokolle... Irgendwann habe ich dann endlich diese 200 Mark Begrüßungsgeld bekommen. Davon waren schon mal fast 100 Mark weg für die Anreise. Ein Mann dort im Auffanglager hat mich dann darüber aufgeklärt, dass mir das Bremer Sozialamt auch ein kostenloses Ticket hätte ausstellen können. Und überhaupt, das Begrüßungsgeld hätte ich auch dort holen können.
Eine große Misere
Zurück in Bremen wollte ich zum Monatsbeginn mein Sozialgeld abholen, nun wirklich fette 320 D-Mark. Leider habe ich davon nur 120 Mark ausgezahlt bekommen. Die 200 Mark Begrüßungsgeld hatten sie mir als monatliches Einkommen von der Summe abgezogen. Durch Zufall spuckte mein Gehirn das Wort „Widerspruch“ aus: Es war das passende Schlüsselwort zu meinem Recht. So habe ich Monate später die fehlende Summe tatsächlich nachgezahlt bekommen.
Für den Moment war es allerdings eine große Misere. Ich hatte mir Geld geborgt und mich verschuldet. Ich hatte kein Geld für Straßenbahntickets und wollte das teure Risiko des Schwarzfahrens nicht eingehen. Dann starb zu allem Unglück auch noch mein Opa, und ich konnte nicht einmal zur Beerdigung fahren...
Letztlich dauerte das alles nur zwei oder drei Monate. Dann ging es bei mir schon wieder bergauf. Aber diese kurze Zeit hat mich sehr stark geprägt. Ich werde sie nie vergessen. Und wie viele Menschen müssen das jahrelang ertragen!
Auch der Weg an die Uni war steinig. Trotz meiner Studiennachweise wurde mein Studium nicht anerkannt. Ich hätte alle Prüfungen neu machen müssen. Nach der Grenzöffnung wurde das übrigens geändert: Man wollte ja nicht Tausende Akademiker*innen, die man sofort gut brauchen konnte, zuerst neu prüfen müssen!
Die Mauer fällt
Da ich mein Fach sowieso nur aus Not gewählt hatte, wechselte ich. Ich wollte endlich etwas studieren, das mich wirklich interessierte. Aber auch das ging nicht. Trotz meiner Studiennachweise wurde noch nicht einmal mein Abitur anerkannt. Ein klassisches Flüchtlingsproblem. Sie haben mir gesagt: Für einen Studienplatzwechsel brauchen wir ihr Abiturzeugnis. Okay, habe ich gesagt, ich bin gerade geflüchtet und habe mein Abiturzeugnis nicht eingepackt. Das wäre ein bisschen auffällig gewesen! Und habe meinen Studiennachweis vorgezeigt.
Ich hatte eine Naturwissenschaft fast fertig studiert. Es war offensichtlich, dass man auch in der DDR dafür ein Abitur brauchte. Aber sie, so typisch Amt: Das verstehen wir, aber wir brauchen Ihr Abiturzeugnis im Original. Keine Chance. Mir blieb nichts übrig, als ihnen etwas auszuhändigen, das sie für ein Original hielten.
Dann schoben sich Sozialamt und BafÖG-Amt gegenseitig die Verantwortung für mich zu. Schon wieder drohte mir die Streichung der finanziellen Leistungen. Meine einzige Chance war, nachzuweisen, dass ich mein erstes Studium aus psychischen Gründen nicht fortführen könnte. Gleichzeitig musste ich ja aber nachweisen, dass ich für das andere Studium sehr wohl die Fähigkeiten hatte! Mit Glück und der Hilfe eines freundlichen Psychologen gelang mir diesen seltsame Nachweis dann doch. Nun durfte ich endlich wieder studieren.
Zu dieser Zeit fiel auch die Mauer. Ich habe mir einmal die Montagsdemonstrationen im Fernsehen angeschaut und vor Rührung geweint. Beim zweiten Mal habe ich nur noch diese nationalistischen Parolen wahrgenommen: Deutschland! Deutschland!
Wie auf einer anderen Eisscholle unterwegs
Auch als ich über Weihnachten das erste Mal wieder zu Hause war, hat mich eine große Kraftlosigkeit überfallen. Alles war scheinbar wie immer, und doch war alles so anders! Ich war jemand anderes geworden. Meine Familie hatte eine Menge mit mir durchgemacht. Auf einer Party habe ich meine Freund*innen wiedergetroffen. Alle haben sich gefreut, mich zu sehen, eben so wie sonst auch immer. Aber was für sie eine Fortsetzung war, war für mich schlicht ein Filmriss.
Was in den letzten Monaten mit mir passiert war, würde ich erst später, Stück für Stück, mit ihnen teilen können: Momentan war ich wie auf einer anderen Eisscholle unterwegs. Alleine. Für mich war es, als würden plötzlich die Toten wieder zum Leben erweckt. Wie sollte ich ihnen dieses Gefühl der höchsten Ergriffenheit erklären? Ich war wie gelähmt. Irgendwann habe ich mich in ein Hinterzimmer verzogen und alles rausgeheult.
Ob es Parallelen zu den Geschichten der jetzigen Flüchtlinge in Deutschland gibt? Sicherlich. Aber im Vergleich zu den meisten hatte ich so viele Vorteile: Ich kam nicht aus einem Kriegsgebiet. Ich hatte keinen Hunger, kein Elend erlitten. Ich kam mit einer guten Bildung hier an und hatte viele wunderbare Erfahrungen schon im Gepäck.
Meine Flucht ging schnell, ohne die üblichen Erniedrigungen, unmenschlichen Behandlungen, ohne ständige Lebensgefahr. Ich sprach von Anfang an Deutsch, habe sofort deutsche Papiere und alle damit verbundenen Rechte bekommen, war ähnlichen Kultur aufgewachsen. Trotzdem war ich fremd, kannte viele Regeln genau so wenig wie meine Rechte und war nicht da, wo ich eigentlich sein wollte.
Wirklich zuhören und hinschauen
Ob es heutzutage besser ist mit der Hilfe für Flüchtlinge? Ich weiß nicht. Auch damals gab es viele, die helfen wollten. Die politischen Motive waren oft anders. Damals bin ich vor allem auf Ablehnung von links gestoßen – von der Szene, der ich mich später aus guten Gründen angeschlossen habe. Sie befürchtete, völlig zu Recht, mit einer Wiedervereinigung Deutschlands würde auch ein neuer Rechtsruck einhergehen. Manche haben mir auch direkt den Vorwurf ins Gesicht geschleudert, ich sei aus dem besseren System geflüchtet. Es hat eine ganze Weile und vor allem Menschen gebraucht, die bereit waren, mich und meine Erfahrungen ernst zu nehmen.
Auch heute hören nur wenige den Geflüchteten wirklich zu. Nur wenige schauen wirklich hin und sind bereit, in einem geflüchteten Menschen erstmal einfach einen Menschen zu sehen, dem dieselben Rechte zustehen. Und zu fragen, was die einzelnen Geflüchteten gerade wirklich brauchen. Ihre Antworten darauf zu akzeptieren. Und vor allem: auch von ihnen Hilfe anzunehmen. Ich habe damals solche Menschen gefunden. Und das wünsche ich auch allen denjenigen, die momentan auf dem Weg in diese Gesellschaft sind.
*Name von der Redaktion geändert.
1 Luis Corvalán Lépe war ein chilenischer Politiker und Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, bekam nach dem Putsch Asyl in der Sowjetunion.
2 Josef Stalin war ein sowjetischer Politiker georgischer Herkunft und Diktator der Sowjetunion von 1927 bis 1953.
3 Perestroika bezeichnet den von Michail Gorbatschow ab Anfang 1986 eingeleiteten Prozess zum Umbau und zur Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion.
4 Michail Gorbatschow ist ein russischer Politiker. Er war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion.
5 Die Kommunalwahlen in der DDR fanden am 7. Mai 1989 statt. Es war die letzte Wahl in der DDR, die nach Einheitslisten der Nationalen Front stattfand, das heißt, es gab nur einen Wahlzettel mit einem Parteienbündnis darauf, den man (unter Aufsicht der Wahlhelfer*innen) in den Schlitz werfen konnte. Das Ergebnis war mit 98,85% das schlechteste in der DDR. Außerdem konnten oppositionelle Gruppen erstmalig Wahlfälschung nachweisen. Am 7. jedes Monats gab es seitdem regelmäßig Demonstrationen gegen den Wahlbetrug.
6 Bis August 1989 lieferte Ungarn gefasste Fluchtwillige grundsätzlich an die DDR aus.
7 Kraxe: ein Tragegestellrucksack
8 Mehrere Hundert DDR-Bürger nutzten am 19. August 1989 das „Paneuropa-Picknick“ bei Sopron als Gelegenheit zur Flucht.