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Syrien nach dem Krieg: Trauma und Hoffnung

Dr. Jasem Al-Mansour, ein syrischer Psychologe, spricht mit kohero Gründer und Chefredakteur Hussam Al Zaher über die Auswirkungen von Krieg und Unterdrückung auf die syrische Bevölkerung. Der promovierte Psychologe, der seit über einem Jahrzehnt im psychosozialen Bereich tätig ist, beschreibt in ei

Syrien nach dem Krieg: Trauma und Hoffnung

Dr. Jasem Al-Mansour wurde in Syrien geboren und lebt seit knapp 30 Jahren in Deutschland. In Syrien begann er sein Psychologiestudium, das er in Deutschland fortsetzte und abschloss. Heute arbeitet er in Berlin im schulpsychologischen Dienst im Bereich „Krise und Notfall“ und engagiert sich seit 2012 mit dem Deutsch-Syrischen Verein zur Förderung der Menschenrechte.

Die hinterlassenen Narben der Assad-Herrschaft

Der 8. Dezember, der Tag, an dem der syrische Diktator Baschar al-Assad von Rebellen gestürzt worden ist, bleibt Dr. Al-Mansour in ganz besonderer Erinnerung. „Ich war die ganze Nacht wach und habe jedes Detail verfolgt“, erzählt er. Besonders bewegend war für ihn die Befreiung des berüchtigten Gefängnisses Saidnaya, das lange als Symbol für die Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die jahrzehntelang Zeit in Syrien herrschte, galt. „Für viele Familien bedeutete das die Hoffnung, endlich von ihren vermissten Angehörigen zu hören“, erklärt er.

Die Befreiung markiert für ihn einen wichtigen Wendepunkt, doch sie brachte auch neue Fragen und Herausforderungen mit sich. Das syrische Volk durchlebte 14 Jahre Dauer-Krieg, Gewalt und jahrzehntelange systematische Unterdrückung. Millionen Menschen haben Angehörige verloren, sind geflüchtet oder leben in zerstörten Städten. „Es gibt kaum eine syrische Familie, die nicht vom Krieg betroffen ist“, sagt Dr. Al-Mansour. Diese Erfahrungen haben tiefe Traumata hinterlassen. „Viele Menschen leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen“, erklärt er. Doch die Versorgung im psychosozialen Bereich in Syrien steht vor enormen Herausforderungen.

Fehlende Infrastruktur und Fachkräfte

Die psychosoziale Versorgung in Syrien sei laut Al-Mansour katastrophal unterentwickelt. Ebenso erläutert er, dass „die psychische Gesundheitsbehandlung in Syrien erst vor etwa 15 Jahren“ so richtig begann. Das Land benötigt dringend neben neuen Fachkräften, auch neue Sozialgesetze und eine grundlegende Neuausrichtung des gesamten Gesundheitssystems. „Wir brauchen dringend einen umfassenden Umbau des psychosozialen Bereichs“, betont Al-Mansour.

Diese Diskrepanz zwischen dem enormen Bedarf und den tatsächlichen Versorgungsmöglichkeiten erfordert eine komplette Neugestaltung des Systems. Es gehe darum, den Beruf der Psychologinnen und Therapeutinnen in Syrien neu zu definieren und die Berufsausbildung qualitativ zu erweitern. „Die Psychologen, die es gibt, haben zwar in Syrien ihre Abschlüsse gemacht, aber sie brauchen die praktische Fortbildung, um als Psychotherapeuten oder Psychiater arbeiten zu können“, erklärt er weiter.

Die Rolle von Fachkräften im Exil

Für Dr. Al-Mansour ist auch die Rolle von Fachkräften, die im Exil leben, entscheidend. Viele Syrer*innen, die während des Krieges nach Europa oder in syrische Nachbarländer, wie in die Türkei oder in den Libanon, geflüchtet sind, sind heute in psychosozialen Berufen tätig und könnten einen entscheidenden Beitrag leisten, um den Wiederaufbau des Landes zu unterstützen. „Es gibt zahlreiche Verbände im Exil, die sich für die Entwicklung der psychosozialen Versorgung in Syrien engagieren, wie beispielsweise der Deutsch-Syrische Verein“, so Al-Mansour weiter.

Doch trotz dieses Engagements gibt es immer noch keine umfassende gesetzliche Struktur in Syrien, die diese Bemühungen koordinieren könnte. „Es gibt keine klaren gesetzlichen Regelungen oder eine zentrale Institution, die dafür sorgt, dass alle Kräfte koordiniert zusammenarbeiten“, erklärt der Psychologe. Die Verbände, die im Exil tätig sind, hätten zunächst lediglich als Unterstützung für aus Syrien geflüchtete Menschen gearbeitet, doch nun sei es dringend an der Zeit, diese Hilfe auch auf Syrien selbst zu übertragen.

„Wir brauchen Hilfe von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere von Deutschland und der Europäischen Union, die im Bereich der Psychotherapie und Weiterbildung gute Erfahrungen haben“, so Al-Mansour. Es gehe darum, finanzielle Unterstützung zu finden und eine gute und koordinierte Zusammenarbeit zu etablieren, um einen gelungenen Wiederaufbau zu ermöglichen.

Ebenso äußert Dr. Al-Mansour, dass der Deutsch-Syrische Verein bereits in engem Kontakt mit deutschen Verbänden stehe, um langfristige Lösungen zu finden. „Es gibt noch viel zu tun“, sagt er, „aber wir arbeiten intensiv daran, sowohl medizinische als auch therapeutische Fachkräfte nach Syrien zu bringen.“ Diese Pläne hängen jedoch stark von der Sicherheitslage Syriens ab: „Wir müssen abwarten, bis die internationale Gemeinschaft, einschließlich der Vereinten Nationen, die neue syrische Regierung anerkennt, bevor wir konkrete Schritte unternehmen können.“ Dr. Al-Mansour verweist dabei auf die bereits bestehende enge Zusammenarbeit mit der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Der Deutsch-Syrische Verein und seine Rolle

Der Deutsch-Syrische Verein zur Förderung der Freiheit und Menschenrechte, bei dem sich Dr. Al-Mansour seit 2012 engagiert, hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2004 ebenso stark für die Verbesserung der psychosozialen Versorgung in Syrien eingesetzt. „Wir haben viele Kliniken in den befreiten Gebieten Syriens aufgebaut und Schulungen für Psychologen und Therapeuten angeboten“, erzählt er. In der Türkei, in Nordsyrien und in Jordanien habe man eine Reihe von Projekten umgesetzt, darunter auch ein umfassendes Trainingsprogramm für Psychotherapeut*innen. „Unsere Arbeit konzentriert sich darauf, Fachkräfte zu schulen, die mit den psychischen Folgen des Krieges arbeiten können“, erklärt Al-Mansour.

Während der Corona-Pandemie betrieb der Verein beispielsweise ein Online-Psychotherapie-Projekt, um Menschen in den betroffenen Gebieten weiterhin Zugang zu Hilfe zu verschaffen.

Das Saidnaya Gefängnis – Ein Symbol des Grauens und der Unterdrückung

Ein besonderer Fokus liegt für Al-Mansour auch auf die gravierenden psychischen Auswirkungen der Menschen, die aus dem Saidnaya-Gefängnis befreit worden sind. Das Gefängnis galt international als einer der repressivsten und grausamsten Orte Syriens und steht für viele Syrer*innen repräsentativ als Symbol für das Grauen und die brutale Unterdrückung der Assad-Herrschaft. Viele der ehemaligen Gefangenen tragen tiefgreifende Traumata mit sich, und der Bedarf an individueller Betreuung ist enorm hoch. „Diese Menschen brauchen nicht nur psychologische Unterstützung, sondern auch grundlegende Versorgung – Sicherheit, ein Zuhause und die Möglichkeit, ihre Rechte zu verstehen und zu verteidigen.“

Der Psychologe ist sich bewusst, dass dies nicht einfach umsetzbar ist. Die schnelle Freilassung der Gefangenen habe in vielen Fällen zu einem chaotischen Zustand geführt, der es erschwert habe, den Bedarf der befreiten Menschen richtig einzuschätzen und zu adressieren. „Es gibt Menschen, die möglicherweise gesundheitliche Probleme haben, andere leiden an Psychosen oder Schizophrenie, und einige haben vielleicht ihre Erinnerungen verloren“, so Al-Mansour weiter.

Die Herausforderung, ein gutes und strukturiertes Unterstützungssystem für diese Menschen zu schaffen, ist hoch. „Es reicht nicht, einfach Traumatherapie anzubieten. Es braucht eine umfassende Versorgung, die alle essentiellen Bedürfnisse abdeckt – von medizinischer Hilfe bis hin zu juristischer Unterstützung, damit die Menschen ihre Rechte wiedererlangen können“, betont er. Laut Al-Mansour müssen die internationalen Gemeinschaften, insbesondere Deutschland und die EU, ihre Unterstützung intensivieren, um eine koordinierte Versorgung der ehemaligen Gefangenen zu ermöglichen. „Wir brauchen ein Ministerium, das sich um die psychosoziale Versorgung kümmert“, sagt er und fügt hinzu, dass die derzeitige Hilfe, obwohl sie hilfreich ist, noch lange nicht ausreicht.

Besonders problematisch sei die Reaktion der Medien auf die Entlassung der Gefangenen. Al-Mansour ist kritisch gegenüber den schnellen Interviews, die oft mit Menschen geführt worden sind, die gerade ihre traumatischen Erlebnisse teilen, ohne dass diese in einem sicheren und unterstützenden Umfeld stattfinden. „Es ist wichtig, dass diese Geschichten gehört werden, aber wichtig ist auch, dass den Menschen Zeit und Unterstützung gegeben wird, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten“, erklärt der Psychologe. Er fordert eine nachhaltige Strategie, die nicht nur auf die unmittelbare psychosoziale Betreuung fokussiert, sondern auch die nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der Betroffenen in Fokus setzt.

Der Weg zur Heilung in Syrien, nach so vielen Jahren des Krieges und der Unterdrückung, ist lang und von vielen Herausforderungen geprägt. Dr. Al-Mansour ist sich sicher, dass nur mit einem gut durchdachten und strukturierten Plan, der sowohl die physischen als auch die psychischen Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt und deckt, eine echte Erholung und der Wiederaufbau der Gesellschaft möglich ist. „Die Menschen brauchen Zeit, sie brauchen Ruhe, sie brauchen Sicherheit.“ Abschließend fügt er hinzu, dass er sich eine gemeinsame Zusammenarbeit der Menschen in Syrien, unabhängig von „Religion und Nationalität“ wünsche, um „gemeinsam eine richtige Demokratie aufzubauen“.

Hier kannst du das ganze Interview mit Jasem Al Mansour sehen.

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