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3 Min. Lesezeit Kolumne

Siempre bienvenida: Chiles Realität erleben

Distanz kann nicht nur räumlich sein – sie entsteht auch durch Unterschiede in der Lebensrealität. Über diese Unterschiede schreibt Consuelo in dieser Ausgabe von „Nicht hier, nicht dort.“

Siempre bienvenida: Chiles Realität erleben

Kinder mit migrantischen Eltern begreifen früh, dass Teil ihrer Geschichte an einem anderen Ort auf diesem Planeten gelebt wurde. 12.506 Kilometer entfernt, trotzdem ganz nah. Wenn es dort bebte, bebte es bei uns, wenn es dort brannte, brannte es bei uns.

Am 16. September 2015 gab es in Chile ein Erdbeben. Die Leitungen waren kaputt, Wasser und Strom fielen aus, viele Menschen haben ihr Zuhause verloren. Eine Woche lang war ich davon überzeugt, dass ich meinen Vater verloren habe. Als im September 2019 „El Estaido Social“ explodierte und in den Straßen Chiles Kolonialstatuen von Menschenmassen beklettert und zerrissen wurden, Polizisten Frauen und Journalisten erschossen und in Kirchen Feuer gelegt wurde, teilte ich die Wut mit ihnen und misste mit meinem ganzen Körper, nicht vor Ort sein zu können.

Doch am meisten brach es mir mein Herz, bei der Beerdigung meine Großeltern nicht dabei sein zu können. Wir konnten nie so für unsere Familie da sein, wie wir es uns wünschten und sie auch nie für uns. Die Erreichbarkeit hing von externen Entwicklungen ab, die für uns außer Kontrolle waren. Von Briefen, internationalen Anrufen mit unterschiedlichen Codierungen, von Skype und anderen Social-Media-Plattformen wie Facebook und Instagram. Zumindest in der virtuellen Welt gab es keine Grenzen.

Du kennst sie nicht, aber sie lieben dich von ganzem Herzen und beten jeden Tag für dich

Die LatinX Community ist geprägt von Migrationsgeschichte. Die Formung der heutigen Bevölkerung Südamerikas basiert auf der Ankunft europäischer Immigrant*innen in territorialen Gebieten von indigenen Gesellschaften. Exklusion, Völkermord, Religion, Mestizaje. In den Augen meiner Eltern sah ich weitervererbtes Heimweh und nicht nur für sie ist dieser Schmerz geläufig. Die Identität der südamerikanischen Gemeinschaft wird umfasst von Heimweh, von einer Sehnsucht nach einem Zuhause. Die Diaspora fließt in unserem Blut, für ein Land der Hoffnung und für ein Land, wie es einmal war.

Als Kind verspürte ich ein großes Gefühl von Ungerechtigkeit. Häufiger verglich ich meine Realität mit der meiner Freund*innen, mit deutschen Familien, welche die deutsche Kultur zu Hause lebten. Alles schien viel einfacher und vollkommener als bei mir. Fragend lief ich durch meinen Alltag, „Wieso haben sie das und wir nicht“, „weshalb machen wir es so und sie nicht“, „Warum dürfen wir das nicht und sie schon“.

Mein 10-jähriges Ich wollte nicht verstehen, was es bedeutet „Ausländerin“ zu sein und welche unterschiedlichen Realitäten meine Eltern im Vergleich zu den Eltern meiner Freundinnen haben. Mein Umfeld schien auch nicht zu verstehen, wieso ich so rede wie ich es tue, warum ich bei meinen Eltern nach Erlaubnis fragen musste und sie nicht, weshalb ich woanders anstehen musste als sie.

Generationskonflikte waren in meinem Haus anders, weil hier nicht nur generationsbedingte Angewohnheiten aneinanderstoßen, sondern auch kulturelle. Doch ich kann nicht von meinen chilenischen Eltern verlangen, dass sie ablegen, was sie definiert und etwas annehmen, das ihnen ihre Identität abspricht und ihnen fremd ist. Begriffen habe ich es erst, als ich nach 10 Jahren wieder in Chile war – alleine. Plötzlich verstand ich, woher ich kam und woher meine Eltern kamen und wieso sie so sind wie sie sind.

Sie haben Teilnahme, in einem Land, in dem sie nicht mehr leben. Ihre Teilnahme ist beschränkt, in einem Land, in dem sie leben

In Chile hörte aber das Vergleichen nicht auf, die Positionen wurden getauscht. Meine Privilegien wurden mir vor die Füße gelegt und die Distanz war nicht mehr von der Lokalität abhängig, sondern davon, dass ich einfach nicht die Realität der chilenischen Bevölkerung teile. Das ist hart, aber das ist auch normal.

Schließlich leben wir an zwei verschiedenen Orten auf der Welt. Jetzt hier zu sein, mit dem Motiv, an der Realität teilzunehmen, am eigenen Leib zu spüren, was es bedeutet in Chile zu leben, ließ mich auf die unterschiedlichsten Reaktionen stoßen und neue Fragen erschienen: Bis wann habe ich Mitspracherecht, nehme ich Menschen die Arbeit weg, inwiefern ist meine Hilfe nötig, betrifft mich das?

In den letzten 6 Monaten traf Chile auf starke Herausforderungen und diesmal war ich vor Ort. Wahlen für die neu formulierte Bundesverfassung schienen ein wichtiges Kapitel zu schließen, jedoch ohne Erfolg: Die alte Verfassung blieb unverändert. Ex-Präsident Sebastián Piñera starb bei einem Helikopter-Unfall und übernahm die mediale Aufmerksamkeit, während in der Region Valparaiso 43 Tausend Hektar in den Waldbränden zerstört wurden. Mehr als 2900 Wohnungsräume wurden zerstört, 12500 Menschen betroffen und es gab über 130 Tote.

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