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7 Min. Lesezeit Kolumne

Schätze der Entwurzelung

Warum verliere ich meine Mützen, Schals, Menschen und sogar Heimat?

Schätze der Entwurzelung

„Wenn du denkst, dass du alles verloren hast, siehe Bäume an, die jedes Jahr ihre Blätter verlieren und sie bleiben trotzdem da und hoffen, dass es wieder gute Tagen kommen werden“

Dieser japanische Spruch hat mir Kraft gegeben. Ich weiß nicht, ob Bäume auch wie Menschen Gefühle haben. Aber wenn ein Mensch seine Heimat oder seine Lieblingssachen verliert, entsteht ein Gefühl von Leere. Das Gefühl der Leere kommt, weil ich meine Heimat verloren habe. Manchmal fühle mich so, als ob ich nichts habe. Als ob man mich beraubt hat. Automatisch falle ich in Opferhaltung.

Ein Gedanke wie „Ich habe ja Nichts“ macht mich wütend und hilflos und erfüllt mich mit Hass zu manchen Deutschen, die ihre Verwandten, ihr Land haben, die es gemütlich haben und wenn sie sich immer wieder über Erkältung und Coronazeiten beschweren, denke ich, was für Schwächlinge sie sind; ich will dann zu solchen Menschen direkt sagen „ihr müsst mal erleben, was es bedeutet Alles hinter sich zu lassen und in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen“! Wie der Hauptheld meines Lieblingsfilmes „Avatar“, der auf einem Rollstuhl sitzt, in einer neuen Realität plötzlich neue Beine bekommt und sich an einem fremden Ort, mit einer fremden Kultur und mit fremden menschenähnlichen Wesen zurechtfinden muss.

Jeder Verlust hinterlässt ein Gefühl von Beraubtsein und erzeugt ein Bedürfnis, Dinge, Menschen, die noch da sind, zu kontrollieren. Aber das Leben nimmt immer wieder etwas weg, woran wir uns festhalten.

Anfang Herbst habe ich mein Lieblingsstirnband verloren. Ich habe viele davon, aber dieses war das beste, weil es mir gut gepasst hat, und ich fühlte mich darin warm und sicher. Kurz danach habe ich in einem Café, neben dem Jungfernstieg meinen Lieblingsschal aus Seide und Kaschmir vergessen. Es ist mir eingefallen, als ich mich einen Kilometer von dem Café entfernt hatte. Ich habe innerlich Wut und Ärger auf mich selbst gefühlt. Aber ich ging weiter, weil ich zu müde war, um zurückzukehren. Ich habe mich mit dem Gedanken abgelenkt, dass ich heute vielleicht doch keinen Schal getragen habe.

Ich wollte an der frischen Luft spazieren und ging an der Kleinen Alster entlang. Gedanken über Verluste gingen weiter. Ein unangenehmes Gefühl vom Verlust meines Schals strengte mich noch mehr an, als ich mich an den Verlust meines roten Stirnbandes erinnerte. Ich habe nachgedacht, warum es mir immer wieder passiert. Schon als Kind habe ich oft meine Mützen und Schals verloren. An solches Tagen bin ich ohne Mütze in die Schule gehen, bis meine Mutter oder jemand anderer es geschafft hatte, mir eine neue zu besorgen. Wenn es manchmal bis -20° war, habe ich gefroren.

Zur gleichen Zeit, als ich meinen Schal und Mütze verloren habe, hat auch meine Tochter ihre neue Mütze verloren. Ich habe sie unter Druck gesetzt, sie zu finden. Ich denke, wenn ihr Fahrrad gestohlen worden wäre, wäre ich nicht so verärgert, als wenn ihre Mütze oder Schal verloren gehen.

Schicksal der verschwundenen Mützen, Schals und Menschen und Heimat

Zusammen mir meiner Heimat habe ich meinen zwei Jahre älteren Bruder auch verloren. Wir waren wie Zwillingsgeschwister. Als Kinder erlebten wir sehr viele Abenteuer. Wir haben uns in einem Kino, gegenüber unserer Wohnung, immer wieder heimlich hinter erwachsenen Besuchern versteckt und indische Filme geschaut. In den 90er Jahren waren sie die besten Filme in Kirgisistan.

In den Herbsttagen haben Straßenreiniger alle Blätter in einen Haufen gesammelt. Es entstanden Riesenberge aus Blättern, zu denen wir von weitem gerannt und mit voller Begeisterung hinein gesprungen sind! Es war ein großartiges Gefühl. Was für ein Segen, dass ich so einen Bruder hatte, der sich wie meine zweite Hälfte anfühlte. Nach dem ich nach Deutschland gegangen war, wollte er mit mir und der ganzen Familie keinen Kontakt haben. Seit 15 Jahren habe ich ihn nicht gesehen.

Wenn ich ihn nicht losgelassen hätte, wäre ich immer noch bemüht, ihn zu kontaktieren, wie ich es in ersten Jahren gemacht habe. Ich fühlte mich sehr schuldig, dass ich ihn verlassen habe. Ich habe zum Glück ihn doch längst losgelassen. Das ist mir gelungen, indem ich über ihn getrauert habe. Wenn ich diese verlorenen Dinge und Menschen verdrängt hätte, würden sie in meinem Körper wie ein Stück Fleisch wachsen und mich irgendwann richtig krank machen. Loslassen bedeutet, dem Leben zu vertrauen und Platz für neue Dinge und Menschen zu schaffen.

Wenn es nicht passiert, bleiben Menschen erstarrt, weil sie ihre Lebensenergie nur zum Festhalten alter Dinge und Menschen aufwenden und sich gar nicht auf ihr jetziges Leben freuen können. Ich glaube, auch Dinge und Menschen wollen von uns losgelassen werden. Sie finden schon ihren eigenen Platz auf dieser Welt und kommen ohne uns zurecht. Nach diesen Erkenntnissen am Jungfernstieg habe ich entschieden, mich darin zu üben, mich nicht mehr über verlorene Dinge zu ärgern. Ich habe den schönen Schal losgelassen und bin nach Hause gefahren. Kurz danach habe mir ein neues schönes Stirnband und eine neue Mütze für meine Tochter gekauft.

Ich habe oft an meinem Bruder gedacht und ich habe mich gefragt, hat er mich auch so wie ich ihn vermisst? Ob er immer noch an mich denkt? Wie stellt er sich mein Leben in seinem Kopf vor?

Ich hatte Glück, dass ich über ihn Vorstellungen hatte: wie sein Haus aussieht, wo er arbeitet und wohnt. Die Stadt in der er lebt, kenne ich auch. All diese äußere Dinge sind unheimlich wichtig, um uns verlorene Menschen und ihr Leben vorstellen zu können. Es gibt uns dabei gewisse Sicherheitsgefühle. Ich glaube, das Schlimmste ist, wenn man sich nichts vorstellen kann. Ich bin für meinen Bruder, seine Schwester, die verloren gegangen ist. Die einmal nach Deutschland ausgewandert ist und seitdem hat er sie kaum gesehen. Ich bin davon überzeigt, dass er in den ersten Jahren ohne mich viel gelitten und mich vermisst hat, nicht weniger als ich ihn.

In den Jahren meines Lebens in Deutschland habe ich viele Freundschaften gehabt. Es waren meistens Freundinnen aus meinem Land. Als ich mich von meinem Mann getrennt habe, sind viele Paare, mit denen wir mit unseren Kindern viel unternommen haben, verschwunden. Ich war sehr traurig und ich habe Schuldgefühle empfunden. Jetzt weiß ich, dass diese Freunde selbst ziemlich wackelige Ehebeziehungen, bedingt durch Kinder und Gesellschaft, geführt haben und deshalb war ich in ihren Augen jemand, der etwas Falsches gemacht hat. Ich war aus ihrem Leben auch weg, ich habe mich auch viel zurückgezogen. Ich fühlte mich nicht mehr zu ihrem Leben zugehörig. Langsam habe ich neue Menschen empfangen, mit denen ich meine Werte teilen konnte. Meine Werte, die ich viele Jahren vergraben habe und wieder ausgegraben habe und endlich ist die Zeit gekommen, viele davon leben zu dürfen. Was für ein Luxus!

Ich hätte in Deutschland mit geschlossenen Augen weiterleben können, wenn mich meine Heimat vor fünf Jahren selbst nicht gerufen hätte. Ohne ihren Ruf wäre ich weiterhin in meiner Scheinheimat geblieben, mit einer Maske einer Deutschen, als Angestellte gearbeitet, verheiratet sein, hätte weitere Kinder bekommen und nur konsumiert. Die Heimat selbst, meine Wurzeln, haben mich so stark angezogen, dass ich zurück gegangen bin und der Stimme meiner Heimat zugehört habe. Sie hat mir vieles erzählt und mir ihren Segen gegeben.

Mein Gewinn durch Entwurzelung

Ich mag es, meine Vergangenheit immer wieder neu zu rekonstruieren. Das mache ich durch Schreiben, Nachdenken und Erzählen. In letzte Zeit kamen neue Erinnerungen, schöne Bilder aus der Vergangenheit, bestimmte Ereignisse, die ich schon vergessen habe. Es fühlt sich so an, als ob in mir sich eine neue Tür geöffnet hat, durch die ich nun kraftvolle Informationen aus der Vergangenheit bekomme. Es ist ein Schatz, weil diese Informationen, mir wieder Sicherheit und Verbundenheitsgefühl mit der Gegenwart gegeben haben.

Ich war doch positiv überrascht, zu erkennen, wie wichtig es für mich war, mich von der Heimat zu entwurzeln. Dort wäre mein Leben einseitig. Das verstehe ich, wenn ich meine Landsleute ansehe, die dort leben und an Verlust ihrer Autonomie leiden. Wenn man keinen Raum und Platz für Selbstausdrück hat, weil man zu viele Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie und der Gesellschaft hat, wo man Druck hat, wie alle andere zu sein und als Frau stets für Harmonie zu sorgen und zu bemuttern, dann gelingt es niemandem, eigene Schätze zu finden und das nach außen zu zeigen. Je mehr ich schreibe und Dinge mache, die mich erfüllen, desto weniger  Sehnsucht nach mir selbst empfinde ich. So kann ich nur im Ausland leben.

Durch Entwurzelung habe ich mich als Mensch erweitert und vergrößert. Diese Erkenntnis gibt mir Selbstzufriedenheit. Natürlich hat es seinen Preis, den ich immer noch bezahle. Meine Entwicklung in Deutschland hat mich erwachsener und größer als viele meiner Landsleuten gemacht. Das merkte ich sehr deutlich als ich dort im Sommer war. In der kirgisischen Gesellschaft wurde ich oft als eine „seltsame“, aber auch als eine „zu erwachsene Frau“ wahrgenommen.

Ich weiß ja, dass ich mich mit meiner Heimat verbunden fühlen kann, ohne dabei Anerkennung von Landsleuten zu haben.

Neue Identität bedeutet für mich, eine Stärke in mir zu haben, mal ein Gefühl der Einsamkeit auszuhalten. Dieses Gefühl kommt, wenn ich mich weder zu Deutschland noch zu Kirgisistan zugehörig fühle. Aber das ist eben ein Gefühl, das vorüber geht und es ist nicht die Realität selbst. Aufgabe dieser Gefühle ist, mir Angst zu machen und mich klein zu halten. Durch Kontakt mit diesen Gefühlen lerne ich, ihnen in die Augen zu schauen und sie zu beobachten. Ich muss nur diesen anstrengenden Zustand aushalten. Die Realität ist für mich in der Tat voll mit Möglichkeiten aber auch mit Menschen, die wie ich an Entwurzelung leiden und sich zwischen Kulturen oft fremd und einsam fühlen. Trotzdem, seit Jahrhunderten migrierten Menschen in andere ferne und fremde Länder, um sich zu erweitern und zu vergrößern. Wenn der Gewinn davon geringer als der Verlust wäre, wären sie in ihrem gemütlichen Nest geblieben.

Als Grundschulkind habe ich mir ein Spiel ausgedacht. Mit meinen besten Freundinnen haben wir auf den Straßen so getan, als ob wir nicht Einheimische sind, sondern Ausländer und wir sprachen eine fremde Sprache.

Als Kind mochte ich Geschichten erzählen, in denen immer  wieder gruselige Gestalten vorkamen. Friedhöfe, unsichtbare, fremde Figuren, die anderen „normalen“ Figuren Angst eingejagt haben. Wahrscheinlich war dieser unsichtbare Aspekt meines Ichs, mein jetziges Ich, das ich hier in Deutschland gefunden habe. Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, wie ich ohne fremde, komische und magische Gesichter des Lebens leben kann. Hier und jetzt habe ich wieder Zugang zu diesem Aspekt in mir, weil ich die Freiheit habe, weil ich völlige innere Ruhe von der ganzen materiellen Welt haben darf und in mir ruhen kann. Dann kommt eine Zauberei des Lebens.

Dafür lohnt es sich für mich, das Stirnband oder die Heimat zu verlieren!

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