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Sara Jamous über ihr Aufwachsen in Palästina und den Krieg in Gaza

Sara Jamous wurde 1997 in Nablus im Westjordanland in Palästina geboren. Als sie 11 Jahre alt war, zog sie mit ihrer Mutter in deren Heimatland Rumänien. Sara kommt 2019 nach Deutschland, um ihren Master in Molekularbiologie zu machen. Heute arbeitet sie im Bereich Epigenetik in München. Im Intervie

Sara Jamous über ihr Aufwachsen in Palästina und den Krieg in Gaza
Fotograf*in: Cornel Mosneag

Wie hast du Deutschland vor dem 7. Oktober 2023 – dem Terrorangriff der Hamas auf Israel – erlebt?

Sara: Meine allgemeine Meinung von Deutschland war recht positiv. Aber schon vor dem 7. Oktober hat sich das etwas gewandelt. Als ich hierhergekommen bin, habe ich Deutschland als dieses sehr fortschrittliche Land angesehen, in das ich ziehen und wo ich meine Staatsbürgerschaft erhalten und bleiben und arbeiten wollte. Das erste Mal, dass mir das Narrativ in Bezug auf Palästina bewusst wurde, war im Jahr 2021 mit dem Vorfall in Sheikh Jarrah. Politisch war ich auch von vielen anderen Dingen enttäuscht. Ich habe das Gefühl, dass es in Deutschland diese Tendenz gibt, mehr darauf zu achten, wie man rüberkommt, anstatt darauf zu achten, wie man sich verhält.

Wie haben sich deine Gefühle zu Deutschland seitdem verändert?

Seit dem 7. Oktober steht für mich fest, dass ich nicht hier bleiben will. Die Tatsache, dass es anfangs illegal war, überhaupt zu protestieren. Die Art und Weise, wie die Proteste in den Medien dargestellt wurden. Ich bewerbe mich sowohl in Deutschland als auch außerhalb für Jobs. Schweden erkennt Palästina schon seit Jahren als Land an. In Belgien, auch in den Niederlanden, habe ich das Gefühl, dass die Diskussion ein wenig anders verläuft. Als ich in Den Haag protestiert habe, als die Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof stattgefunden haben, riefen die Leute den Demonstrant*innen zu und schwenkten Fahnen aus Solidarität. Das gibt es in Deutschland nicht.

"Der Krieg hat uns in vielerlei Hinsicht behindert. Alles von Bildung bis hin zu Arbeitsmöglichkeiten"

Wann hast du Palästina verlassen?

Ich bin in Nablus aufgewachsen, im Westjordanland. Meine Mutter ist Rumänin, mein Vater ist Palästinenser. Meine Familie lebte in Palästina, bis ich etwa 11 Jahre alt war, und dann sind wir nach Rumänien gegangen, weil sich meine Eltern getrennt haben. Wir sind nicht direkt wegen des Krieges weggegangen, aber der Krieg hat uns in vielerlei Hinsicht behindert. Alles von Bildung bis hin zu Arbeitsmöglichkeiten. Die Wirtschaft ist zerstört. Aber der Grund, warum wir gegangen sind, war vor allem wegen meiner Familie. Und dann habe ich in Rumänien gelebt, bis ich 2019 nach Deutschland gezogen bin.

Wie hast du deine Kindheit in Palästina und das Leben unter israelischer Besatzung erlebt?

Die zweite Intifada begann, als ich drei Jahre alt war. Wir mussten umziehen, weil wir in der Nähe der Grenze gelebt haben und es dort viele Soldat*innen gab. Also zogen wir ein wenig höher auf einen der Berge in Nablus. Wenn es einen anhaltenden Konflikt gab, wurde eine Ausgangssperre verhängt. Man durfte nicht aus dem Haus gehen. In dieser Zeit gab es auch häufiger Hausdurchsuchungen.

Als Kind habe ich das nicht verstanden. Sie sind nachts in dein Haus gekommen und haben die ganze Familie aufgeweckt. Sie haben die alten Leute und die Kinder getrennt, die Frauen und die Männer. Und dann haben sie das Haus durchsucht, angeblich nach Waffen. Man fühlt sich unwohl, die Kinder weinen. Damals war es mir nicht bewusst, aber die Soldat*innen sind oft gerade erst volljährig, im Grunde sind sie selbst Kinder.

Sie haben normalerweise keine Wahl. Wenn sie den Dienst verweigern, müssen sie ins Gefängnis. Sie würden ein Vorstrafenregister bekommen, das sie für immer begleiten wird. Die meisten Menschen weigern sich nicht, aus Prinzip. Ich glaube, man bringt ihnen generell viele negative Dinge über Araber*innen bei.

"Um ehrlich zu sein, habe ich ein gewisses Mitgefühl für diese Soldat*innen"

Wie viele Male war deine Familie von den Hausdurchsuchungen betroffen?

Ich glaube, drei Mal. An ein Mal erinnere ich mich noch genau. Sie kamen und ich war noch sehr jung und hatte gerade gelernt, einen High Five zu geben. Einer der Soldat*innen wollte mit meiner Mutter sprechen und streckte seine Hand aus, um ihre zu schütteln. Aber sie wollte seine Hand nicht schütteln und ich gab ihm einfach einen High Five.

Wie hat der Soldat reagiert?

Er war sehr verwirrt. Um ehrlich zu sein, habe ich ein gewisses Mitgefühl für diese Soldat*innen. Ich glaube nicht, dass sie mehr darüber nachdenken, als ich darüber nachgedacht habe. Ich habe es auch als normal akzeptiert. Ich erinnere mich daran, dass ich einen Apfelstrunk im Müll gefunden habe, nachdem sie gegangen waren. Und ich habe gedacht: Wie seltsam, dass diese Person einen Apfel von uns genommen und ihn gegessen hat, ohne vorher darum zu bitten. Unter anderen Umständen wären wir einfach eine Gruppe von Leuten gewesen, die sich unterhalten hätten.

"Es ist nicht normal, dass Kinder so etwas erleben"

Und wie war das mit den Ausgangssperren?

Die Ausgangssperren galten meist den ganzen Tag. Als Kinder sind wir überhaupt nicht rausgegangen. Vielleicht gingen die Eltern raus, um Lebensmittel einzukaufen. Normalerweise waren die Ausgangssperren mehrere Tage lang. Sie begannen manchmal unerwartet und die Soldat*innen kamen einfach, während man in der Schule war. Ich erinnere mich noch gut an das Chaos, das dann oft entstand.

Eine Sache, die ich wirklich schrecklich fand, und die sie immer noch tun, ist, dass sie Tränengaskanister in die Nähe von Schulen werfen. Es ist nicht normal, dass Kinder so etwas erleben. Einmal war es so nah, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ein Auto der IDF (Israelische Verteidigungsstreitkräfte) fuhr vorbei und sie warfen Tränengas aus dem Fenster und es traf einen Jungen am Kopf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich das angefühlt haben muss, denn ich war vielleicht 100 Meter von ihm entfernt und konnte nicht mehr atmen, die Tränen auf der Wange brannten in meinem Gesicht.

Und wenn die Soldat*innen kamen, durftest du nicht in die Schule gehen?

Nein. Wir haben in der Früh das Radio angemacht, um zu erfahren, wie die Situation gerade ist. Oft erlaubte mir meine Mutter in diesen Zeiten nicht, aus dem Fenster zu schauen, weil manchmal durch die Fenster geschossen wurde. Aber ich war ein Kind und habe es nicht verstanden. Weil wir auf einem Berg wohnten, konnte man die Gebäude unten gut sehen. Und ich erinnere mich noch daran, dass man die Scharfschützen auf dem Dach des Krankenhauses sehen konnte.

Sie haben auf Menschen in ihren Häusern geschossen?

Die Angriffe auf Zivilpersonen im Westjordanland waren nicht so häufig. Oft haben sie Menschen mitgenommen, auch Kinder. Ich kannte Leute, die inhaftiert waren und die in Einzelhaft gesteckt und gefoltert wurden. Es ist wirklich sehr, sehr schlimm. Es wurde aber zum Beispiel nie jemand direkt vor meinen Augen getötet.

"Ich bin genauso betroffen wie jede andere Person, die jemanden in Gaza kennt"

Lebt dein Vater noch im Westjordanland?

Ja, mein Vater lebt immer noch dort.

Wie bist du persönlich von der aktuellen Situation betroffen, wenn die Seite der Familie deines Vaters noch in Palästina lebt?

Ich bin genauso betroffen wie jede andere Person, die jemanden in Gaza kennt. Meine Familie ist soweit sicher, aber für eine Person aus Gaza sieht das ganz anders aus. Ich habe eine Freundin, die im Norden von Gaza lebt. Sie hat in einem Krankenhaus Zuflucht gesucht. Jetzt weiß ich nicht einmal genau, wo sie sich aufhält, weil sie nicht so oft eine Internetverbindung hat.

Heute habe ich gesehen, dass es wieder eine Aufforderung zur Evakuierung von der IDF gab. Aber ich verstehe nicht, wohin die Menschen noch gehen sollen. Es ist sehr, sehr schlimm. Ich weiß nicht einmal, wie die Situation ist, weil ich ihr nicht jeden Tag schreiben kann, um zu fragen, ob sie noch am Leben ist.

Welche Strategien hast du, um mit der emotionalen Belastung umzugehen?

Das Beste, was man tun kann, ist, Gemeinschaften zu finden, denen es genauso geht, denn das gibt Hoffnung. Aber in Deutschland ist das schwierig. Du siehst das alles passieren und alle um dich herum tun so, als wäre nichts. Und du fragst dich: „Was ist los mit mir? Warum bin ich davon so betroffen?“. Wenn ich Leute gefragt habe, mich zu den Protesten zu begleiten, waren sie in Deutschland viel weniger dazu bereit als anderswo. Ich habe es geschafft, einen deutschen Kollegen dazu zu bringen, mit mir zum größten Protest zu gehen, der stattfand. Nur den einen.

Was würdest du dir von der deutschen Berichterstattung wünschen?

Wann immer ich einen Artikel zum Thema gelesen habe, war er sehr voreingenommen. Oder es ist davon die Rede, dass Menschen gestorben sind, anstatt dass Menschen ermordet oder von IDF-Soldat*innen erschossen wurden. Ich habe das Gefühl, dass die Wortwahl und die Art, wie darüber berichtet wird, ein globales Phänomen ist. Aber in Deutschland wird auch oft einfach vermieden, über bestimmte Themen zu sprechen.

Was würdest du dir von der deutschen Politik wünschen und welche Rolle spielt deiner Meinung nach Deutschland in der aktuellen Situation in Palästina?

Eine riesige Rolle! Deshalb bin ich so wütend auf die deutsche Bevölkerung, nicht nur auf die deutschen Politiker*innen. Eine Umfrage von Statista hat ergeben, dass 69 % der Deutschen mit dem militärischen Vorgehen Israels im Gaza-Streifen nicht einverstanden sind. Aber sie sagen nicht nein zu den massiven Waffenexporten nach Israel und der finanziellen Unterstützung. Wann immer ich das Thema anspreche, sind sie sich darüber nicht einmal bewusst.

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