Zwei Männer, erschöpft und mit gebücktem Haupt nebeneinander; sie unterhalten sich. Juan und Santiago sitzen inmitten einer leeren dunklen Bühne, ein einziger Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sie sprechen über die Ungerechtigkeit des Kapitalismus und was das mit globalen Migrationsströmen zu tun hat. In ihrem kontemporären Tanzstück “Echoes of Darien” verkörpern sie eine Sehnsucht und einen Schmerz, den ein ganzer amerikanischer Kontinent in sich trägt. Gerade proben sie noch, doch in wenigen Minuten beginnt ihre Tanzperformance im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.
Der sogenannte Darien Gap (tapón del Darién Spa) ist die einzige nicht befahrbare Zone zwischen Alaska und Feuerland des amerikanischen Doppelkontinents, weshalb sie auch als “Lücke” oder “Stecker” bezeichnet wird. Über 100 Kilometer erstreckt sich ein immenser Urwald und bildet die Grenze zwischen Kolumbien und Panama. An diesem von Gefahren besetzten Ort kommen Menschen aller Welt zusammen und durchqueren, meist zu Fuß, die dicht bewachsene Zone. Sie geraten dabei immer wieder in die Hände von Drogengangs und Menschenhändlern und riskieren dabei ihr Leben. Ihr Ziel: Die Erfüllung des amerikanischen Traumes.
“Ist es nicht unfair, dass mein Geld weniger wert ist als deins?", fragt Santiago seinen Tanzpartner in einem kurzen Zwischendialog. Dieser antwortet: "Ja, vier Sandwiches in meinem Land sind bloß ein Sandwich hier”, erwidert er. In “Echoes of Darien” spielen die beiden mit solchen Brüchen. Sie verkörpern zwei Migranten, die in einem scheinbar unendlichen Labyrinth an Dschungel zusammen sitzen und diese banal wirkende Konversation führen.
Santiago Mariño ist zeitgenössischer Tänzer und Tanzlehrer sowie Choreograf. Der 32-Jährige studierte Darstellende Kunst in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und arbeitete anschließend an verschiedenen Orten der Welt. Seit 2022 arbeitet er als Freelancer in Deutschland und studiert an der Hessischen Theaterakademie in Gießen. Seinen Tanzpartner Juan Camilo Rojas Arévalo hat er 2023 über gemeinsame Freunde in Frankfurt kennengelernt. Auf die Frage, ob es einen bestimmten Grund für Juan gab, explizit nach Deutschland zu migrieren, antwortete er schlichtweg “Nein, einfach nur Leben” und lachte. Er studierte ebenfalls Darstellende Kunst mit Fokus auf Tanz in Bogotá. Seit einem Jahr lebt er in Mainz und arbeitet auch als Freelancer und Pädagoge, unter anderem an der Frankfurter Oper und dem Staatstheater Mainz.
Bei der diesjährigen Fluctoplasma, Hamburgs interdisziplinäres Kunstfestival, welches Ende Oktober zum fünften Mal stattfand, präsentierten die beiden Bogotaner ihr Werk. Ihr Ziel sei es, auch hier in Europa auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen, welche sich in der unübersichtlichen Zone zwischen Panama und Kolumbien ereignet. Als lateinamerikansche Migranten, die es durch ihre Kunst auf die andere Seite des Atlantiks geschafft haben, möchten sie dieses Privileg nutzen, um auch Menschen in Deutschland für das Thema zu sensibilisieren. In ihrer Aufführung verbinden sie den Schmerz des Verlassens der Heimat mit den Lügen und den Ungerechtigkeiten des amerikanischen Traums.
Santiago liegt zunächst auf dem Boden und umarmt einen Berg aus Kleidung. Er wälzt sich über die Bühne, während er Kleidungsstück um Kleidungsstück verliert. Juan betritt die Bühne und zählt Dinge auf, die eine migrierende Person vermisst: die Heimat, die Musik, das Essen, die Familie, seine Muttersprache zu hören. “Wisst ihr, wie klug ich auf Spanisch bin?”, fragt er. Es folgen intensive Umarmungen der beiden Tänzer, die immer wieder auseinander und zueinander finden. Sie gleiten und zerren sich regelrecht durch das verlorenen Kleidungschaos, während düstere Musik ertönt. Dann kommen sie zur Ruhe, atmen durch und sitzen nebeneinander wie zwei Reisende nach einem langen Marsch. Sie stellen die richtigen Fragen am falschen Ort, Systemfragen zweier Leidtragender, inmitten eines scheinbar undurchdringbaren Urwalds. “Warum ist ein Reisepass mehr wert als der andere?”, “Was muss ich tun, um in diesem Land zu bleiben? Heiraten?”. “Warum ist das Sandwich hier so viel weniger wert als dort?” – Stille.
Santiago greift nach einem Besen und beginnt mit bedröpeltem Gesicht die Kleidung zusammenzufegen. Leise erklingt im Hintergrund Salsa-Musik. Juan richtet sich auf, die Klänge werden lauter und er beginnt einen spektakulären Salsa-Solotanz. Santiago übergibt den Besen und zeigt ebenfalls sein ganzes Können. Fulminant endet die Einlage mit einem Paartanz, der die ganze Bandbreite des lateinamerikanischen Tanzes zeigt.
Im abschließenden Artist-Talk werden die beiden gefragt, warum sie diesen sehr typisch lateinamerikanischen Tanz mit in ihre Performance packen wollten. Die Gleichzeitigkeit von Schmerz und Freude während des Migrationsprozesses zu zeigen, sei ihr Hauptaugenmerk gewesen, betonen sie. Sie haben das Glück, durch ihre Körper Menschen repräsentieren zu dürfen, die weit weg von ihrer Wirklichkeit sind. Der Tanz sei dabei eine universelle Sprache, die jeder Mensch verstehe und welche sie weiterhin nutzen wollen, um die Echos aus dem Darién in die Welt zu tragen.