Zum Inhalt springen
8 Min. Lesezeit Persönliche Geschichten

Sadaf Zahedi: Poetin im Einsatz für Kinder

Sadaf Zahedi hat in ihrem Leben viel gekämpft: für sich selbst und für andere. Der Weg der Poetin und Projektleiterin ist geprägt von dem Versuch, die Welt ein Stück gerechter zu machen. Ihre Erzählungen schenken Hoffnung, Projekte wie "Bildung ohne Bücher" ermöglichen Zugang zu Wissen für Kindern i

Sadaf Zahedi: Poetin im Einsatz für Kinder

Sadaf Zahedi, Poetin und Literaturpreisträgerin der Erik-Neutsch-Stiftung, ist am 23. Februar 1985 in Kabul, Afghanistan geboren. Sie ist “Kriegsflüchtlingskind“, lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in Deutschland und ist in Bremen aufgewachsen.

Wiederholt betritt sie Bühnen, um mit ihren Gedichten Organisationen bei Spendenaktionen zu unterstützen. “Neben der Begeisterung fürs Schreiben bringe ich seit meinem 25. Lebensjahr mein Erlebtes sowie meine Gefühle auch auf Leinwand und habe die Werke bei Ausstellungen gezeigt. Wird etwas verkauft, spende ich es Kindern in Kriegsgebieten“, sagt Sadaf.

Mit ihrer fesselnden Erzählung “Vier Jahreszeiten", die von der Erik-Neutsch-Stiftung im Wettbewerb 2020/21 ausgewählt wurde und im April 2022 schließlich durch den Verlag Neues Leben veröffentlicht wurde, ist sie immer wieder bei Lesungen. Ihr literarisches Werk hat nicht nur die Aufmerksamkeit von Publikum und Kritik gleichermaßen geweckt, sondern es auch auf die Bühne des Transkulturellen Theaters Osnabrück geschafft. Auszüge aus ihrer Erzählung wurden in die Inszenierung des Stücks “Dazwischen” eingebaut. Diese kreative Verknüpfung zwischen Literatur und Theater zeigt nicht nur die Vielseitigkeit ihres Schaffens, sondern unterstreicht auch die künstlerische Strahlkraft ihrer Erzählungen. Mit jeder Lesung und jeder Aufführung vermag Sadaf, die Zuhörenden in ihrer Geschichten zu entführen und dabei nicht nur unterhaltsame, sondern auch tiefgehende Botschaften zu vermitteln.

“Es ist mir ein großes Anliegen, die besondere literarische und im Vortrag dann auch sprachliche Form, die sich in den Sprachen Urdu und Farsi über die Jahrtausende entwickelt hat, fürs Deutsche und für Deutsche zu erschließen. So folge ich beim Sprechen meiner Texte der besonderen Melodie und Betonung dieser über Generationen und über Ländergrenzen gewordenen lyrischen Vortragskunst“, erklärt die Autorin.

Inzwischen ist Sadaf selbst Mutter von drei Kindern und nutzt “jede freie Minute, um aufzuschreiben, was meine Kindheit in einer Familie zwischen Krieg, Flucht und Heimatlosigkeit auf der Suche nach der wahren Liebe geprägt hat.” Gerade die Liebe zu sich selbst und die Achtung vor dem eigenen Leben ist ihr wichtig. “Das möchte ich besonders den Frauen und den Kindern dieser Welt vermitteln“, betont sie. Sadaf, ein „Kriegsflüchtlingskind“, will durch autobiografisch geprägte Erzählungen und Texte auf die prekären Zustände in ihrem Heimatland aufmerksam machen und eine “laute Stimme gegen die stille Gewalt an Mädchen und Frauen erheben”.

Gewaltvolle Kindheit

Die Erfahrungen, die Sadaf dahingehend während ihrer eigenen Kindheit gemacht hat, haben sie nachhaltig geprägt. “Als Kind hatte ich immer sehr große Ängste in mir, habe mich oft gefragt, ob diese Zeiten eines Tages enden werden. Ob wohl alle Menschen so hasserfüllt sind wie mein Vater. Und trotzdem war mir bewusst, immer das Gegenteil zu tun, was meine Eltern mir vorgelebt haben, denn für meine Kinderseele fühlte es sich verkehrt an, gar fremd. Ich habe nie verstanden, warum Menschen sich Gewalt zufügen müssen, oder ein Kind kein Kind sein darf“, erinnert sich Sadaf.

Sie erzählt weiter über eine prägende und verstörende Erinnerung ihrer Kindheit: „Ich erinnere mich an einen Moment meiner Kindheit. Ich war zehn Jahre alt und drückte mir das Schlachtermesser meines Vaters gegen meinen Bauch, bitter weinte ich und dennoch konnte ich es nicht übers Herz bringen. Durch meinen Kopf ging: Nein, das darfst du nicht! Denn sie braucht dich, du darfst Mama nicht allein lassen. Wer soll sie dann beschützen? Ich weinte weiter und ging in das Gäste-WC, unten im Haus hatten wir eine kleine Dusche. Ich legte meine Kleidung langsam ab und ließ das Wasser laufen, spürte die Tropfen auf meiner Haut wie Regen, denn wenn es regnet, kann niemand meine Tränen sehen. Meine Arme und Beine schrubbte ich ab, bis die Haut kleine Blutbläschen bildete. Ich saß einfach da und spürte den Schmerz in meiner Seele.

Neben all der Unterdrückung eines Mudschaheddins habe ich noch mit vielen anderen Dingen zu kämpfen gehabt. Mein Vater zwang uns, nach Alter und Größe aufgestellt, im Chor alle Kriegslieder zu singen, die er uns damals lehrte. Manchmal verlangte er von uns, mit ihm gemeinsam Videokassetten anzuschauen, die ihm ein Freund aus Afghanistan geschickt hatte: Mudschaheddins in der Gefangenschaft der UdSSR, wie sie die Gotteskrieger folterten und man sie bis zum Tod bestrafte.“ Ihre Geschichte zeugt von einer schmerzhaften Kindheit, geprägt von häuslicher Gewalt, emotionalem Chaos und der Machtlosigkeit eines Kindes.

„Mein Vater war neben seiner Besessenheit vom Extremen auch noch spielsüchtig. Ich erinnere mich auch an die Lähmung meiner Mutter, wenn er zum wiederholten Male eine seiner Geliebten mit nach Hause brachte. Ich habe mich an ihrem Rock festgehalten und das Szenario beobachtet. Ich habe nicht verstanden, was meiner Mutter fehlte, dass er sie nicht lieben konnte. Eines Nachmittags stand ich hinter unserem Sofa, es war ein großes Sofa, das abgerundet im Raum stand. Ich liebte es, mich in der kleinen Kuhle zu verstecken, es war wie eine kleine sichere Höhle. Als mein Vater wieder meine Mutter anschrie, fragte ich ihn, was an Mama so schlecht sei? Er zog mich heraus und schlug fest auf mich ein. Ich war gerade mal sechs Jahre alt. Meine Mutter saß einfach da, sie hat uns selten beschützt. Heute, wo ich selbst Mutter bin, verstehe ich, wie machtlos meine Kinder sind, und ich treffe jede Entscheidung ihrer Geschichte, bis sie selbst eines Tages diese Verantwortung für sich übernehmen können. Und ich frage mich, welche Mutter ihre Kinder solch einem Leid aussetzen würde”, sagt Sadaf.

Sadafs Blick auf ihre eigene Mutter und ihre Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Mutterrolle lassen ein Trauma erkennen, das über Generationen weitergegeben wurde und das nun zum ersten Mal durchbrochen wird. „Meine Mutter war immer die Schwache, die vielleicht unbewusst Schutz bei mir als Kind suchte. Oftmals vor mir weinte und mit mir ihre Traurigkeit teilte. Ich erinnere mich zu gut, wie ich sie in meinen jungen Jahren mit gerade mal 5 tröstete, ihre Tränen wegwischte, statt mit ihr meinen Kummer zu teilen. Mein Vater und ich hatten nie eine sehr tiefe Bindung aufgebaut. Er war immer das, was ich nie werden wollte“, sagt sie. Danach fügt sie hinzu: “Es gibt viele Dinge, die mich stark geprägt haben. Doch heute bin ich dankbar, auch für die nicht so guten Erfahrungen.“ Diese Erlebnisse bilden nicht nur den Hintergrund für ihre Erzählungen, sondern haben auch einen tiefgreifenden Einfluss auf ihre Perspektive und ihr Engagement.

Engagement für Kinder

Das zeigt sich auch in ihrer Projektarbeit. Mit dem Projekt “B.o.B. - Bildung ohne Bücher” möchte sie zunächst 2.000 Kindern in den ländlichen Regionen den Zugang zu Bildung ermöglichen, denn “erst die Bildung befähigt den Menschen, ihre politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Situation zu verbessern“, erklärt Sadaf, „ausgehend davon, dass 2/3 der Afghan*innen unter Analphabetismus leben und die Eltern ihren Kindern nur eine eingeschränkte Sichtweise weitergeben können, habe ich die Idee entwickelt, mithilfe von MP3-Playern eine moderne Art der Bildung in das Land zu bringen.” Das Projekt finanziert sich ausschließlich durch die Einnahmen ihrer Lesungen auf den Bühnen in Deutschland.

„Nur zu hoffen, dass sich eines Tages die Geschichte verändert, ließ mir keine Ruhe. Und die Hoffnung, es wenigstens versucht zu haben, erfüllt mich täglich in meinem Schaffen.“ Die Motivation, nicht einfach auf eine bessere Zukunft zu hoffen, sondern aktiv dazu beizutragen, spiegelt ihren Einsatz für positive Veränderungen wider: „Die Vorstellung, dass eines Tages ein Kind eine bessere Zukunftsperspektive und vielleicht die Chance wahrnimmt, seine eigene Geschichte zu verändern, treiben mich an.“

Sadaf sagt: „Die Kinder von heute sind die Geschichte von morgen. Kein Kind dieser Welt entscheidet, wo es geboren wird, in welche Geschichte es hineinkommt. Und die Ungerechtigkeit dieser Aufteilung muss verändert werden. Denn jedes Leben ist kostbar.“ Der Aufruf zur Veränderung der Ungerechtigkeit in der Welt und die Betonung der Kostbarkeit jedes Lebens sind eindringliche Erinnerungen daran, wie wichtig es ist, sich für eine inklusive und gerechte Gesellschaft einzusetzen. „Mein Ziel ist es, mit dem Bundesministerium für Bildung & Forschung eines Tages eine KI zu entwickeln, um Bildung weltweit für jedes Kind zugänglich zu machen”, führt sie aus.

Auf ihrem eigenen Lebensweg erhielt sie von ihren Eltern „wenig bis gar keine“ Unterstützung; „vielmehr war ich stets diejenige, die für sie stark sein musste“, sagt sie, und wäre es nach dem Willen meiner Eltern gegangen, wäre ich bereits im Alter von 15 Jahren mit einem mir wildfremden Menschen verheiratet worden.“ Eines Nachts ist sie weggelaufen, weg von ihren Eltern, weg von dem Gefühl, dass ihr jegliches Wissen vorenthalten wurde, weh von der Scham darüber. Sie rannte und rannte, suchte das nächste Frauenhaus und klingelte dort.

Trotz allem, was sie erlebt hat, hat sie ihren Eltern verziehen. Denn wenn man seiner Vergangenheit nicht vergibt, wie sollte man der Gegenwart mit einem Lachen entgegentreten? Doch Kontakt zu ihnen hat sich kaum: „Sehen tue ich meinen Vater nur im äußersten Notfall, ansonsten gehe ich ihm aus dem Weg. Meine Mutter versuche ich immer wieder ein wenig zu unterstützen, da sie kaum die Sprache spricht und inzwischen alleine lebt. Da fallen Erledigungen an, Einkäufe, Getränkekisten tragen oder Arztbesuche. Doch bleibt es dabei, dass sie sich immer noch wie eine Fremde anfühlt, eine fremde hilflose Frau, um die ich mir selbst heute noch Sorgen mache.“

Mit ihren eigenen Kindern geht Sadaf ganz anders um, als sie es selbst erlebt hat: „Ich nehme meine Kinder jeden Morgen und jeden Abend in meine Arme und sage ihnen, dass ich sie liebe. Etwas, das ich bis heute nicht von meinen Eltern gehört habe. Wir bauen Höhlen und lesen dort Gedichte. Spielen mit unserem Wäschekorb Piraten auf See und suchen die versteckten Inseln. Und was mir besonders am Herzen liegt, ist, dass unsere Kinder regelmäßige Abläufe kennen. Da Kinder feste Strukturen brauchen, um ein Gefühl von Stabilität & Sicherheit aufbauen zu können. So kennen sie ihre Wochenabläufe und freuen sich auf die Aktivitäten, die sie besuchen dürfen. Ein fester Bestandteil davon ist unser Bücherei-Dienstag.“

Insgesamt haben ihre Erfahrungen als Person mit Migrationsgeschichte sie „sehr stark beeinflusst, in meinen heutigen Handlungen.“ „Dadurch, dass ich viele Jahre den Freiheitskampf angegangen bin, um heute frei und selbstständig über mein Leben bestimmen zu dürfen, steht und fällt alles mit der Geschichte meiner Kindheit.

Vielleicht wäre ich heute ein anderer Mensch, wenn mich all das Leid nicht so geprägt hätte. Doch heute weiß ich, dass ich immer wieder diesen schweren Weg auf mich nehmen würde. Doch „die Flucht und die Zeit nach der Flucht sind wie eine dunkle Wolke, die immer wieder vorbeizieht. Und um diese Gefühle für mich gut einordnen zu können, habe ich über mein Erlebtes einen Roman geschrieben: “Sternenzähler“. Sadaf wollte Menschen Mut und Hoffnung schaffen. Sadafs Hingabe als Mutter und ihre Einstellung zu ihrer Vergangenheit zeigen, wie viel Arbeit darin steckt, generationsübergreifende Traumata zu überwinden und in Positives für sich selbst und andere umzuwandeln.

“Solange wir kein Mitgefühl füreinander entwickeln, wird Hass niemals enden können.“ Sadafs eigener kultureller Hintergrund hat ihr komplettes Leben als Kind beeinflusst und ihr das Gefühl von Heimat verwehrt.Das Gefühl, in der Schule neben einem Mädchen zu sitzen, das ihre Sprache spricht. Unter einem Mandelbaum nachmittags Blumenketten zu stecken. “Wie vielen Menschen es wohl so ergeht wie mir. Die Zerrissenheit, immer dazwischen zu stehen und nie irgendwo zugehörig zu sein“, fragt sie.

In öffentlichen Diskussionen zu Flucht und Migration fällt ihr auf, „dass die Menschen vergessen, dass niemand seine Heimat freiwillig verlässt, um eines Tages auf fremden Boden zu stehen. Wir sollten uns fragen, wie schlimm es einem Menschen ergehen muss, wenn er auf einem Boot über das Meer schippert und dabei sein Neugeborenes auf Händen trägt. Würden all die Menschen, denen diese Erfahrung erspart geblieben ist, dieses Leid auf sich nehmen? Für nur einen Tag, um sich in jene Menschen hineinversetzen zu können? Wir bekriegen ihre Länder, zerbomben ihre Häuser und verwehren ihnen auch woanders glücklich zu sein.” Sadaf würde sich daher immer wieder für Gerechtigkeit einsetzen.

Sadafs Geschichte ist geprägt von Überwindung, Selbstreflexion und dem Wunsch nach Freiheit. Ihr Mut, ihrer Kindheit zu entkommen und ihre Hingabe als Mutter zeigen, wie sie persönliche Traumata in positive Handlungen umgewandelt hat. Trotz der schwierigen Beziehung zu ihren Eltern hat sie Vergebung gefunden und setzt sich aktiv für Gerechtigkeit und Verständnis in öffentlichen Diskussionen ein. Ihr Roman "Sternenzähler" dient als inspirierendes Werk, das Mut und Hoffnung verbreiten soll. Sadafs Geschichte ist ein kraftvolles Zeugnis für ihre Resilienz und die transformative Kraft der Liebe und des Mitgefühls.

Teilen Teilen Teilen Teilen