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roots&reels #17: Filmkritiker und sogenannte Expert*innen

Im Newsletter „roots&reels“ schreibt Schayan (meistens) über das neueste aus dem Bereich Film und Fernsehen. Diesmal befasst er sich mit einem etwas anderen Thema, nämlich: sogenannte Expert*innen.

roots&reels #17: Filmkritiker und sogenannte Expert*innen
Fotograf*in: Artem Podrez auf pexels

Vor geraumer Zeit wurde ich mal von einem Freund gefragt, ob ich mich eher als Filmkritiker, als Filmjournalist oder als – Gott bewahre – Filmwissenschaftler sehe. „Das Letzte hast du ja studiert“. Das ist eine gute Frage, weil ich keine eindeutige Antwort darauf habe. Ich bewege mich wohl frei zwischen diesen Begriffen. Mir gefällt der Begriff Filmkritiker eigentlich, weil es um das Wesentliche beim Filmegucken geht. Filmjournalist würde auch zutreffen, vor allem bei diesem Newsletter, da ich hier nicht nur Filme rezensiere, sondern auch etwas genereller über sie schreibe, Interviews führe, Nachrichten aus der Filmwelt kommentiere.

Den Begriff Filmwissenschaftler, auch wenn dieser etwas seriöser oder akademischer in seiner Natur ist, finde ich weniger passend. Mein Studium der Filmwissenschaft war, und das ist natürlich eine reine subjektive Wahrnehmung, nicht wirklich wissenschaftlich. Zumindest hatte ich nie diesen Eindruck, zwischen den ganzen Screenings, Essays und eigenen Kurzfilmen. Vielleicht habe ich es auch einfach nicht so ernst genommen. Ich habe aber bestanden, versprochen.

Warum dieser Einstieg zu Berufsbezeichnungen? Ich nehme in den sozialen Netzwerken immer vermehrt vermeintliche Kulturkämpfe wahr, die am Ende des Tages keine allzu wichtigen Debatten sind. Denn solche „non-issues“ gehen meist von rechts aus, aber sie sind essenziell für eine bestimmte Art von Person, die sich immer in den Vordergrund stellen und Reichweite generieren kann: derdie sogenannte Expertin. Islamexpertinnen, Genderexpertinnen, Rassismusexpertinnen, Genozidexpertinnen, es gibt kein Thema, wo es keine entsprechende Stimme im deutschsprachigen Raum gibt, die mit ihrer Expertise prahlen kann. Nur dauert es nicht lange und sie entlarvt sich mit fadenscheinigen Argumenten als, sagen wir mal, ahnungslos.

Letzte Woche war eine besonders erfolgreiche Woche für diese Sorte von Menschen. Die Kontroverse um Imane Khelif zum Beispiel, eine algerische Olympia-Boxerin, wurde schnell ausgenutzt, um transfeindlichen Ideologien freien Lauf zu lassen. „Warum boxt ein Mann gegen Frauen“ hieß es überall, „damit gefährden wir doch das Leben von Boxerinnen“. In der ersten Runde brach nämlich Khelifs italienische Gegnerin den Kampf nach weniger als einer Minute ab, weil sie „noch nie so doll geschlagen wurde“. Es geht hier übrigens immer noch ums Boxen.

Imane Khelif ist eine biologische Frau. Doch die Expertinnen wollten uns jetzt weismachen, dass Algerien, ein Land, in dem LGBT-Rechte nicht gerade priorisiert werden, eine trans* Frau zu den Olympischen Spielen in Paris geschickt hätte. Es ist auch nicht so, als wäre Khelif nicht schon bei den letzten Olympischen Spielen in Tokio dabei gewesen, als hätte sie nicht schon mehrmals gegen Frauen verloren. Als hätten ihre Gegnerinnen in den nächsten Runden nicht über alle drei Runden mitgehalten. Aber Fakten spielen keine so große Rolle mehr bei dieser Thematik. Nun steht Khelif im Finale und kann Gold gewinnen. Gut für sie.

Es gibt auch einen anderen aktuellen Fall, wo das Internet nur so strotzt vom Expert*innentum: bei den rassistischen Ausschreitungen in Großbritannien. Seit mehreren Tagen kommt es in verschiedenen Städten zu gewalttätigen Hetzjagden von —mehrheitlich rechten auf nicht-weiße Bürger. Auslöser war wohl ein Messerangriff in der Stadt Southport, bei dem drei Kinder getötet und weitere verletzt wurden.

Es verbreiteten sich schnell die Fake-News, dass der Angreifer ein muslimischer Asylbewerber war – es folgten Attacken auf Moscheen, auf Hotels, in denen Asylbewerber*innen untergebracht waren, auf Passanten, die nicht weiß aussahen. So weit, so Rostock-Lichtenhagen. Doch viele Menschen, die jetzt eine Teilschuld bei den „Linken“ oder „Muslimen“ sehen, erwähnen gar nicht, dass die Messerattacke nicht von einem Muslim ausging. Auch hier haben es also die Rechten geschafft, die Diskurshoheit zu gewinnen.

Warum schreibst du das alles, höre ich dich sagen, das ist doch ein Film-Newsletter? Ja, sorry, doch geht es mir auch um den vorgenannten Punkt. Ob ich nun Filmkritiker, Filmjournalist oder Filmwissenschaftler bin, ich würde mich niemals als Experte bezeichnen. Ich lerne selbst noch so viel, und vor allem bei solchen Talking Points wie Gender und Race schaue ich öfter ins Kino, zu Filmen, die sich mit genau solchen Thematiken beschäftigen, um mich zu bilden.

Ich verstehe auch vieles nicht, das gebe ich gerne zu, ich habe keine eindeutige Meinung bei vielen Sachen, ich bin mir zu 100 % sicher, dass auch ich hier und da problematische Ansichten vertrete. Aber Filme helfen mir immer wieder, Empathie zu entwickeln. An dieser Stelle also noch zwei Filmempfehlungen (beide auf MUBI verfügbar), die eben voller Empathie und Intelligenz sind: „Eine fantastische Frau“ von Sebastián Lelio (2017) über eine trans* Frau, die sich nach dem Tod ihres Freundes mit seiner Familie konfrontiert sieht, sowie D. Smiths Dokumentarfilm „Kokomo City“, ein Porträt von Schwarzen trans* Frauen in der Sexarbeit.

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