Immer, wenn die Rede von den besten Schauspielerinnen der Welt ist – und ich meine echte Legenden, und nicht die jüngere Riege (Sorry, Zendaya, Florence Pugh usw.) – dann werden meist dieselben Namen genannt: Meryl Streep, klar, Judi Dench, dann Juliette Binoche und Isabelle Huppert aus Frankreich, Viola Davis natürlich und so weiter. Alle zurecht – sie sind so gut in dem, was sie machen. Aber ein Name wird leider selten bis kaum genannt, obwohl diese Schauspielerin meiner Meinung nach auf jeden Fall in diese Aufzählung gehört: Hiam Abbass!
Abbas wurde Anfang der 60er in Nazareth geboren, in einer Familie, die 1948 während der „Nakba“ (zu Deutsch: Katastrophe) aus ihrem palästinensischen Dorf vertrieben wurde. Als junge Frau verliebte sie sich in das Theater, beschloss aber recht früh, Israel zu verlassen, unter anderem weil sie nicht immer unter den schwierigen behördlichen Bedingungen arbeiten wollte. Ohne so wirklich den Segen ihrer Familie zu haben, verließ Abbass ihr Zuhause, schließlich wartete eine illustre Karriere auf sie, in Filmen von Regisseuren wie Julian Schnabel, Steven Spielberg, Jim Jarmusch oder Ridley Scott. Jüngst war Abbass im Blockbuster „Blade Runner 2046“ zu sehen oder den Festival-Favoriten „Insyriated“ und „Gaza mon amour“.
Auch im Binge-Watching-Programm ist Hiam Abbass voll und ganz angekommen: Sie hat eine wunderbare Rolle als Mutter von „Ramy“ (auf MGM+ bei Prime verfügbar) und auch als undurchsichtige Frau von Gründer und CEO Roy Logan in „Succession“ (alle Staffeln bei WOW). Abbass ist also in mehreren Prestige-Sachen zu finden, genauso wie in Arthouse-Stoffen und dabei immer eine Bereicherung für den Cast. Mehr Leute sollten sie auf dem Schirm haben.
15 JAHRE ALFILM
Es ist somit nur richtig, dass im Programm der 15. Edition von ALFILM Hiam Abbass mehrfach vertreten ist. ALFILM ist das jährlich stattfindende arabische Filmfestival Berlins und zeigt seit inzwischen fünfzehn Jahren die besten arabischen Geschichten in den Kinos der Hauptstadt. Der Eröffnungsfilm ist die einfühlsame und emotionale Dokumentation „Bye Bye Tiberias“ von Lina Soualem – Hiam Abbass Tochter. Mit diesem Film kehrt Soualem in das Dorf zurück, in dem Abbass aufgewachsen ist und letztendlich verlassen musste, um Weltstar zu werden.
Mit einer intelligenten und sensiblen Kameraführung, gemischt mit sehr viel Archivmaterial und ehrlichen Gesprächen aller Beteiligten, zeichnet die junge Regisseurin ein Porträt ihrer Familie zwischen Palästina, Syrien, Frankreich und anderswo und nimmt insbesondere mehrere Generationen von Frauen in den Fokus, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Liebe und Trauer. Sie erzählt vom Verlust der eigenen Heimat, ein Thema, das sich durch die ganze Geschichte zieht.
Um all das geht es auch im Kurzfilm „Sokrania 59“ von Abdallah Al Khatib. Hier spielt Hiam Abbass eine Geflüchtete aus Syrien (mit palästinensischer Herkunft), die mit ihrer Familie in Deutschland in einem Gemeinschaftshaus untergekommen ist. Willkommen fühlen sie sich nicht, vor allem weil sie täglich von einem Inspekteur schikaniert werden, der unangekündigt auftaucht und die Familie an alle – sehr deutschen – Regeln erinnert.
Von einem Tag auf den anderen kommen dann auch noch zwei ukrainische Geflüchtete dazu, mit denen die Wohnung geteilt werden muss. Ab dieser Szene ist der Film vorhersehbar, mit typischen Culture-Clash-Komponenten, aber was soll’s, es ist ein Kurzfilm und die Message ist in diesen Zeiten der gesellschaftlichen Spaltungen wichtiger denn je. Dem Film gelingt es jedenfalls, nicht ins absurd Melodramatische abzudriften. Und die Kameraeinstellungen zum Ende hin machen auch Spaß.
Weniger spaßig ist „Yellow Bus“ von Wendy Bednarz, doch die Performances sind hier sehr stark: Ananda und ihr Mann Gagan haben Indien in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen, doch ihr Leben in einem ungenannten arabischen Golfstaat wird schnell zum Albtraum. Eines Tages wird ihre Tochter tot im Schulbus aufgefunden, sie wurde dort einfach vergessen und ist an der Hitze erstickt. Ananda schwört Rache, doch so einfach ist das nicht in einem Land, wo ihre Religion und Kultur auf hiesige Bräuche und Regeln prallt, wo niemand Verantwortung übernehmen möchte. Der Film ist vielleicht 15–20 Minuten zu lang, aber er lohnt sich für die aufrichtige Darbietung von Tannishtha Chatterjee als gebrochene Mutter.
Das ALFILM-Festival läuft vom 24. bis 30. April in verschiedenen Berliner Kinos und zeigt u. a. Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, Panels und Masterclasses mit Filmschaffenden. BYE BYE TIBERIAS, SOKRANIA 59, YELLOW BUS und viele weitere Titel sind alle noch zu sehen.
Weitere Infos: https://alfilm.berlin/
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