Es war Ricardos Schwester, die Ricardo zum Tanzen brachte. Tänze mit Schritten voller Anmut und der Sehnsucht danach, sich auszudrücken. Ricardo habe mit weit geöffneten Augen auf dem abgenutzten Wohnzimmerboden gesessen und die Bewunderung nicht verbergen können, als their Schwester anmutig durch den Raum wirbelte. Ricardo spürte den Rhythmus und den Drang, sich zu bewegen. Eines Tages, so die Erinnerung von Ricardo, habe die Schwester neue Schritte ausprobiert, hatte aber niemanden, mit dem sie trainieren konnte. Das war der Moment, in dem Ricardo eifrig einstieg und sofort wusste: „Tanzen ist meine Leidenschaft“.
Potentiale der migrantischen Perspektive
Im Alter von 15 Jahren das Heimatland Mexiko verlassen zu haben, sei hart gewesen, gibt Ricardo zu. Der Umzug ins Ausland war ein großer Schritt, da es nicht nur eine Herausforderung war, die Familie hinter sich zu lassen, sondern sich auch an einen ganz anderen Kontinent anzupassen. „Es ist seltsam zu sehen, wie sich meine Heimat von der anderen Seite der Welt aus verändert. Ich meine, ich erlebe die Veränderungen nicht selbst, aber meine Verbindung zu meinem Geburtsland besteht immer noch, daher fühle ich mich natürlich von jeder Veränderung in der Gesellschaft berührt.“ In ein anderes Land zu ziehen, habe Ricardo aber nie bereut: „Es war Teil meiner Reise. Es sollte so sein, um meine Perspektive mit verschiedenen Kulturen zu verbinden“, versichert Ricardo.
Ricardo lacht, wenn they an die Reaktion von Familie und Freunden in Mexiko denkt, seit they in Europa ist. „Ich werde oft gefragt, wie ich mich fühle, nachdem ich mehr als 10 Jahre im Ausland war. Es ist lustig, denn in Mexiko bin ich jetzt europäisch, während ich in Europa immer noch als mexikanisch wahrgenommen werde“. Aber das stört Ricardo nicht. Laut Ricardo haben Migrant*innen die Kraft, verschiedene Welten gleichzeitig sehen und verstehen zu können. Für Ricardo ist dies ein großes Potenzial und wichtig, um diese Erkenntnisse mit der Welt zu teilen: „Ich glaube, dass es wichtig ist, meine Stimme zu erheben und zu teilen, was ich sehen kann.“
They geht aber nicht davon aus, dass andere Menschen, die diese Zusammenhänge nicht sehen können, böse Absichten haben: „Ich glaube nicht, dass die Menschen das nicht erkennen wollen, meistens haben sie es einfach nicht auf dem Radar.“
Gemeinschaft durch „House of Brownies“
Als professionelle*r Tänzer*in sind intensive Trainingsphasen, weit verbreitete Konkurrenz und Ablehnung nur einige von vielen Hindernissen, die Ricardo aus der Arbeit in der Branche aus erster Hand kennt. Doch darüber hinaus sieht they ein größeres Problem: „Wenn man sich als braune queere Tänzer*in in bestimmten Kreisen bewegt, merkt man schnell den Klassismus. Wenn du Menschen findest, die dir ähnlich sind, werdet ihr euch gegenseitig bemerken. Oft fällt man durch seine Hautfarbe auf – das ist einfach eine Tatsache.“
Während der Zeit als Teil des Hamburg Balletts lief Ricardo drei weiteren Tänzer*innen über den Weg. Da sie die einzigen mit einem dunkleren Hautton waren, schufen sie „House of Brownies“.
Das Konzept von „House“ basiert auf der Philosophie der Drag Houses in den 80er Jahren. Die Idee, eine Familie zu gründen, um zu helfen und für die eigene Gemeinschaft zu sorgen. Ein Ort, an dem Akzeptanz und Liebe ihren Platz finden. „Wir befinden uns auf einer nie endenden Reise der Selbstfindung in Bezug auf unsere Queerness, dem Verlernen und Wiedererlernen authentischer Selbstausdrucksweise. Menschen um sich zu haben, die ähnliche Lebensrealitäten kennen und mit denen man Erfahrungen und Gedanken austauschen kann, ist noch wichtiger als das“, erklärt Ricardo. „Brownies“ stammt aus einer Nacht, in der jemand Ricardo und Freund*innen wegen ihrer Hautfarbe anpöbelte. Sie nannten sie „Brownies“ und meinten damit, dass sie die einzigen braunen Menschen im Club waren. Danach haben sie das Wort für sich beansprucht und zu ihrem eigenen gemacht. „Gerade weil wir uns in egalitären, oft weiß dominierten Räumen bewegen, ist es gut für uns, uns daran zu erinnern, wie wir in dieser Welt wahrgenommen werden.“
Heute ist das „House of Brownies“ ein Künstler*innenkollektiv, dessen Hauptfamilienmitglieder aus sechs internationalen Personen (Deutschland/Nepal, Kolumbien, Mexiko, Philippinen, Brasilien und Simbabwe) bestehen. Zusammen mit dem House of Brownies bietet Ricardo eine Plattform und kreiert Veranstaltungen für Gleichgesinnte der BIPOC- und LGBTIQ*+-Community – immer mit dem politischen Ansatz, die Einzigartigkeit aller zu berücksichtigen.
Die Macht der Wunden
Ricardo glaubt fest daran, dass künstlerische Arbeit hilft, die eigene Persönlichkeit zu finden und zu entwickeln. „Als ich mit dem House of Brownies angefangen habe, hat es mir sehr geholfen, die Wunden zu heilen, die ich gesammelt habe. Es erinnerte mich an meine Authentizität in der Welt, in die ich mich bewege.“ Mit der künstlerischen Arbeit möchte Ricardo Individualität wertschätzen und dazu beitragen, Räume weiterzuentwickeln und sie zu transformieren. „Ich allein werde die Welt nicht verändern, aber wenn sich mehrere Menschen zusammenschließen, macht sich das bemerkbar. Darin liegt die Kraft.“
They möchte auch anderen ermöglichen, dies zu spüren. Die Hauptbotschaft in Ricardos Arbeit sei es, dem Publikum zu zeigen, dass man nie vergisst, woher man kommt, wo man ist und was in einem steckt. „Ich möchte, dass jede Person sie selbst ist“, betont Ricardo.
„Ich weiß nicht, wo ich in Zukunft sein werde. Was ich weiß, ist, wo ich heute stehe. Ich weiß, dass ich glücklich bin mit dem, was ich gerade bin. Ich frage mich nie, was ich morgen will. Ich frage mich, was ich heute will“, verrät Ricardo. Ein Ziel ist dabei klar: Tag für Tag mehr Räume für Menschen zu schaffen, die sich mit Ricardo identifizieren können. „Meine Herkunft prägt mich und ich weiß, wer ich in dieser Welt bin. Deshalb werde ich nie ruhig bleiben. Ich werde immer für mich und andere einstehen. Tanzen ist meine Revolution.“