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3 Min. Lesezeit Kultur

Rezensionen und Leseempfehlungen

Der Krieg in Gaza beschäftigt derzeit viele. Hier sind Rezensionen und Empfehlungen für Bücher zum Thema.

Rezensionen und Leseempfehlungen

Atef Abu Saif. Frühstück mit der Drohne.

Atef Abu Saif, ein Schriftsteller und Politologe, in Gaza geboren und lebend und seit April 2019 Kultusminister des palästinensischen Staates, beschreibt in seinem Buch nicht die üblichen wortgewaltigen, überdimensionalen Kriegserlebnisse aus Zeiten, als man noch Mann gegen Mann oder Heer gegen Armee kämpfte, sondern er schreibt in Tagebuchform seine Erlebnisse nieder, seine Ängste und seine trügerischen Hoffnungen.

Er schreibt von seiner Familie, von Freunden und Nachbarn, von zerbombten Häusern, von brennenden Äckern, Olivenbäumen und Orangenhainen, von zerfetzten Leichen, von der Auslöschung ganzer Familien (vom Baby bis zum Großvater), von der psychischen Zersetzung der Menschen. Deren Traumata die Sockel einer künftigen Gesellschaft sein werden. Der Kriegstanz äußert sich so: „Unser Alltag wird vom Rhythmus Krieg-Feuerpause-Krieg-Feuerpause vorgeben, es ist wie ein Tanz, dem Du folgen musst. Der Krieg entscheidet, wann wir ins Bett gehen, wann wir aufstehen.“

Das ist eine zusätzliche Zermürbungstaktik zu der Angst um das eigene Leben, der Angst um die Familie und um die Freunde, zu den Kalamitäten des Alltags: wann gibt es wieder Wasser? Wann gibt es wieder Strom? Wann können wir auf den Markt, um Essen einzukaufen? Und immer wieder die Frage: warum lebe ich noch? Wann sterbe ich? Wann trifft der Tod mich?

Da fällt mir die arabische Anekdote ein: „Der Diener eines Händlers sieht auf dem Marktplatz von Bagdad den Tod. Der Tod winkt ihm bedrohlich zu, doch der Diener flieht zu Pferde nach Samarra. Der Händler macht dem Tod darauf Vorwürfe, er habe seinen Diener verschreckt, doch der Tod antwortet, er habe ihn nicht verschrecken wollen: Er sei lediglich überrascht gewesen, den Diener in Bagdad anzutreffen, denn er habe heute Abend eine Verabredung mit ihm in Samarra.“

Die Notizen von Atef Abu Saif sind wie ein Mosaik, ein Mosaik des Krieges und des Todes, der Angst und der Verzweiflung, aber auch der kleinen Freuden des Alltags: einen Kaffee trinken, eine Shisha rauchen, eine Melone essen.

Und der Hoffnung: Denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn die Zeilen eher trocken wirken, eher wie eine Reportage, klingt in ihnen tiefe Menschlichkeit und Empathie mit: die Toten und die Opfer bleiben nicht alle namenlos. Atef Abu Saif gibt ihnen ein Stück Leben zurück durch die Nennung ihrer Namen und ihres Alters.

Das Sirren der Drohne, fast wie ein Perpetuum mobile, wie eine mutierte Riesenmücke, ist ständige Begleitung, gesteuert von einem anonymen Menschen, der „nur seine Pflicht tut“ (steht nicht in allen religiösen Geboten: Du sollst nicht töten?), der womöglich vor Langeweile gähnt und Kaugummi kaut, der womöglich Spaß an einer sirrenden Verfolgungsjagd hat oder Frust, weil seine Frau gestern Nacht nicht mit ihm schlafen wollte oder die Bank ihm den Kredit verweigert hat. Die Drohne ist das Symbol dieses Krieges und aller zukünftigen: ein Big Brother-Szenario, gegen das der einzelne Mensch machtlos ist und dem er ausgeliefert ist.

Ich habe dieses Buch wie eine Hymne an das Leben und an die Hoffnung gelesen. Und bewundere seine Aussage, dass „Gaza wahrscheinlich der dreckigste, überbevölkerteste Platz auf der Welt ist, beherrscht von Fundamentalisten, aber es ist der Platz, wo ich zu Hause bin. Und meine Großmutter, die ihr Zuhause in Jaffa während der Nakba verließ, sah dies immer als den größten Fehler ihres Lebens an.“
Vielleicht müsste die Geschichte des Nahen Ostens neu geschrieben werden wie ein Palimpsest mit einer neuen Vision für die Zukunft:
für die Menschen und für das Land.

We are not numbers. Junge Stimmen aus Gaza.

Eingerahmt werden diese Texte, die keine literarischen Texte im klassischen Sinne sind, sondern Zustands-Skizzen der jungen Verfasser aus Gaza, von dem Prolog und dem Epilog der Ideengeberinnen des Projektes: Pam Bailey und Alice Rothschild. Und umrahmt von den wunderbaren, expressiven Bildern der Künstlerin Malak Mattar.

Bewegende Texte, die bedrücken, beschämen und zutiefst berühren. Wir nehmen die Träume, Hoffnungen und die Wünsche der jungen Menschen in uns auf, es lesen sich Hoffnungslosigkeit und zugleich Hoffnung in den Zeilen, tröstlich und tröstend trotz aller machtvollen Willkür Isreals, trotz aller Ausweglosigkeit, trotz aller Gleichgültigkeit des Westens. Kämpfe und Drohnenangriffe werden überschattet von dem lähmenden Alltag durch Stromkürzungen, Wassermangel, Sanktionen aller Art, Reiseverboten.

Jenseits aller politischen Polemik ist dieses wunderbare Buch ein Schrei nach Menschlichkeit und Aufmerksamkeit. Eine Aufforderung zum Nachdenken. Besonders für die westliche privilegierte Jugend, für die es selbstverständlich ist, für ein Praktikum oder für ein Semester um den halben Globus zu reisen.

We are not numbers sollte Pflichtlektüre sein im Schulunterricht.  Bei mir zumindest hat es einen Ehrenplatz im Regal.

Weitere Leseempfehlungen:

Bettina Marx: Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung. zweitausendeins Verlag, ISBN-13: 978-3-86150-761-1

Amira Hass: Gaza: Tage und Nächte in einem besetzen Land. C.H. Beck Verlag, München 2003
ISBN 9783406502033

Joe Sacco: Gaza (Graphic Novel). Edition Moderne, ISBN 978-3-03731-080-9

Izzeldin Abulaish: Ich werde nicht hassen. ISBN 978-3-7844-3652-4, Verlag Langen-Müller

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