Es ist Samstagabend und ich verfolge ich die Nachrichten aus Syrien weiterhin sehr genau. Wahrscheinlich genauso wie Du! Es passiert viel, aber ich versuche, die wichtigsten Ereignisse zusammenzufassen. Erstens: unterschiedliche Rebellengruppen stehen vor den Toren von Damaskus, während die syrische Armee kaum noch präsent ist. Die Rebellen haben in den letzten Stunden weitere Orte unter ihre Kontrolle gebracht. Zweitens: die bisherigen Beschützer des Assad Regimes scheinen eher auf diplomatische Gespräche statt auf Waffenlieferungen zu setzen. Es laufen angeblich Diskussionen zwischen den Außenministern/Repräsentanten der Türkei, dem Iran, Russland, sowie weiteren arabischen Ländern.
Heute, am Samstag, verlor das Assad Regime die Kontrolle der Städte Daraa und as-Suwaida im Süden des Landes. Hier ist es von großer Bedeutung, dass diese Städte nicht von islamistischen Rebellengruppen (wie Hayat Tahrir Al-Sham, HTS) eingenommen/befreit wurden, sondern von lokalen aufständischen Gruppen. Mehr dazu weiter unten in dieser Folge.
Von den 16 wichtigen Städten im Land kontrolliert das Assad Regime anscheinend nur noch vier: Damaskus, Tartus und Latakia. Während ich diese Zeilen tippe, laufen Videos im Fernsehen, die das geöffnete Zentralgefängnis in Homs zeigen und Menschen, die auf die Straßen von Homs strömen.
Auch die Freie Syrische Armee, die in at-Tanf stationiert ist, war heute aktiv. Zur Erinnerung: Die US-amerikanische Basis at-Tanf in Syrien besteht seit 1991. Zwischendurch wurde sie zwar stillgelegt, aber seit 2016 und dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ in der Region wieder in Betrieb genommen. Sie befindet sich in der Nähe der Grenzen zu Jordanien und dem Irak.
Das bedeutet, dass aktuell vier verschiedene Gruppierungen Richtung Damaskus vorrücken:
- Die Rebellen aus dem Norden, größtenteils islamistische Gruppen wie die HTS, die mit ihrer schnellen Offensive Aleppo, Hama und Homs eingenommen haben
- Kämpfer aus Daraa, zum Teil mit ehemaligen Kämpfern der anti-Assad Opposition, die bis 2018 noch mit Assad kooperierten
- Kämpfer aus as-Suwaida, die Hauptstadt der Region, in der die Mehrheit der syrischen Drus*innen leben
- Die Freie Syrische Armee, die von den USA unterstützt wurde
Die Syrische National Armee (SNA, von der Türkei unterstützt) sowie das syrisch-kurdische Militärbündnis kämpfen weiterhin rund um Deir-ez-Zor und des Euphrats. Es gibt Berichte, dass sich die zwei Gruppen rund um Manbij gegenseitig bekämpfen. Die Verwaltungen in den kurdisch-kontrollierten Gebieten melden, dass sie mit der Ankunft von über 200.000 Vertriebenen rechnen. Zur Erinnerung: Berichten zufolge sind bisher über 330.000 Menschen aufgrund der Kämpfe vertrieben / geflüchtet.
Zudem gibt es Berichte, dass die Türkei, Russland und Iran einen Deal ausgehandelt haben, der politische Lösungen vorsieht, unter anderem eine neue Verfassung für Syrien. Allerdings ist noch völlig unklar, ob diese Pläne mit oder ohne Assad gemacht werden. Der zukünftige US-Präsident Trump postete in den sozialen Medien, dass „Syrien ein Chaos ist (…) und die Vereinigten Staaten sollten nichts damit zu tun haben“.
Es bleibt also ein angespanntes Wochenende.
Danke, dass Du dabei bist. Falls Du neu dazu gekommen bist, bitte fülle bitte diese kurze Umfrage aus.
Nach der ersten Folge dieses Newsletters habe ich eine Rückmeldung von einem Leser erhalten. Er schrieb, dass die FAZ berichtet, man solle die Kämpfer in Syrien nicht „Rebellen“ nennen, sondern „Islamisten“. Diese Bemerkung hat mich nachdenklich gemacht: Welche Begriffe wählen wir bei kohero?
Wenn ich mich in deutschsprachigen Medien umhöre, gibt es alles Mögliche: Rebellen, Jihadisten, Aufständische, Islamisten, Oppositionelle, Revolutionäre. In der heutigen Presseschau des Deutschlandfunks wurde beispielsweise ein Kommentar aus der Rhein-Neckar-Zeitung zitiert, demnach die Wahl zwischen Assad und den Islamisten aus westlicher Sicht wie die Wahl zwischen Pest und Cholera sei.
Ich möchte hier nicht unbedingt auf die Definitionen von Islamismus, oder dem Selbstverständnis von Gruppen wie Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) eingehen. Ich habe versucht, in der vierten Folge dieses Newsletters einen Überblick über HTS gegeben. Hier möchte ich stattdessen auf die Komplexität der Lage in Syrien hinweisen und auf das Problem, wenn nicht-syrische Beobachter*innen die Lage aus einer zu engen Perspektive zu sehen.
Viele deutschsprachige Journalistinnen sprechen kein Arabisch und haben den gesamten Verlauf des syrischen Konflikts nicht verfolgt. Und noch weniger wissen über die mehr als 50 Jahre von Assad-Herrschaft über Syrien. Es ist kein schwarz-weiß Konflikt und es sind sehr viele unterschiedliche Spieler auf dem Feld. Gleichzeitig ist es den vielen Syrerinnen, die sich schon so lange ein Ende des mörderischen Assad-Regimes wünschen, ungerecht, oberflächliche Analysen zu verkaufen.
Denn jetzt kämpfen nicht nur Islamisten gegen Assads Militär, sondern auch andere lokale, bewaffnete Gruppen, wie zum Beispiel in Daraa. Warum sollten diese in den Medienberichten ungeachtet bleiben? Oder die Städte, in denen Minderheiten wie Christinnen und Ismailitinnen, Abkommen mit HTS getroffen haben, die ihnen Sicherheiten zusprechen?
In diesem Kontext benutze ich „Rebellen“, um bewaffnete Gruppen zu beschreiben, die gegen das syrische Regime, das syrische Militär, sowie Milizen, die diese unterstützen (wie zum Beispiel pro-Iranische Milizen) kämpfen. Sie versuchen, Territorien zu erobern und politische Veränderungen herbeizuführen. Für mich ist der Begriff „Rebellen“ nicht zwangsläufig positiv. Er ist neutral und bedeutet lediglich, dass diese Gruppen gegen die bestehende Ordnung kämpfen – unabhängig von ihren Motiven oder Ideologien. Deshalb können auch islamistische Gruppen Rebellen sein, weil sie gegen das Regime kämpfen.
Seit der ersten Folge dieses Newsletters habe ich versucht, Dir als Leser*innen die Fakten zu präsentieren, so wie ich sie als Syrer und als Journalist empfange. Es liegt an Dir, zu entscheiden, wie Du diese Entwicklungen in Syrien bewerten möchtest. Ich möchte keine moralische Belehrung oder vorgefertigte Meinung liefern (wie es meiner Meinung nach oft in den deutschen Medien passiert). Stattdessen versuche ich, alle Informationen so darzustellen, damit Du selbst zu einem Urteil kommen kannst.
Ich verstehe, dass es für nicht-Syrerinnen schwer nachzuvollziehen ist, wie eine Gruppe wie HTS von der Bevölkerung gesehen wird. Auch für viele Syrerinnen sind die aktuellen Entwicklungen von widersprüchlichen Gefühlen begleitet: Wir können uns freuen, wenn Symbole der Diktatur, wie Statuen, von den Kämpfern heruntergerissen werden. Aber gleichzeitig haben wir Sorgen um unsere Familien, um deren Versorgung und davor, dass es doch noch Bombardierungen geben könnte. Wir können hoffnungsvoll sein, wenn junge Syrer*innen nach fast dreizehn Jahren wieder auf die Straßen laufen und gegen Assad demonstrieren. Wir können dabei auch Sorgen haben, ob eine politische Lösung tatsächlich am Horizont erscheint.
In diesem Newsletter werde ich weiterhin den Begriff Rebellen nutzen. Ich habe noch keinen anderen Begriff gefunden, der die vielen unterschiedlichen Gruppen beschreiben kann. Und ich kenne die syrische Geschichte gut und sehe die Komplexitäten. Viele Männer haben 2011–2012 gegen Assad demonstriert, später gekämpft und sind dann irgendwann aufgrund von Vertreibung, Perspektivlosigkeit und anderen Umständen später zu islamistischen Gruppen übergelaufen. Andere sind bestimmt überzeugte Jihadisten und versuchen, eine islamistische Gesellschaftsordnung zu bauen. Andere Kämpfer sind vor allem vom Geld getrieben und daher von der Position, die ihre Geldgeber haben.
Aber wer die syrische Geschichte und die Konflikte der Region besser kennt, weiß, dass man mit schwarz-weiß Denken nicht weit kommt. Vieles ist komplex und auch widersprüchlich: Manche Gruppen leisten an einem Ort Gutes und begehen anderswo sehr schlimme Verbrechen.
Was meinst Du dazu? Ist diese Sichtweise nachvollziehbar? Was ist Deine Meinung – als Syrerin oder als Deutscher?
Ich freue mich auf Deine Gedanken und Dein Feedback.
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