Vergangenen Freitag hatte ich die Möglichkeit, eine Live-Podcast-Folge mit Miriam Davoudvandi aufzunehmen, in der wir über meine Arbeit gesprochen haben. Im Mittelpunkt standen dabei migrantische Perspektiven auf Psychotherapie und Psychologie, insbesondere Themen wie die Erfahrungen von Survivors und das Phänomen des „Immigration Guilt“. Auch transgenerationale Traumata und Sekundärtraumatisierung waren zentrale Bestandteile unserer Diskussion – alles Themen, die bereits in diesem Newsletter behandelt wurden und weiterhin von großer Bedeutung sind.
Während des Gesprächs tauchte ein weiteres wichtiges Thema auf: das „Eldest-Daughter -Syndrome“, das im Grunde eine Form der Parentifizierung darstellt. Dieses Konzept hat mich inspiriert, die heutige Ausgabe von „migratische psyche“ den familiären Strukturen und deren Auswirkungen auf unsere mentale Gesundheit zu widmen. Insbesondere in migrantischen Familien lastet oft ein erheblicher Druck auf ältesten Töchtern, die bestimmte Rollenbilder erfüllen müssen. Das kann zu erheblichen psychischen Belastungen führen. Heute möchte ich beleuchten, wie solche Dynamiken unsere psychische Gesundheit beeinflussen und welche Strategien uns helfen können, besser damit umzugehen.
Was sind Parentifizierung und das „Eldest-Daughter-Syndrome“?
Parentifizierung liegt vor, wenn ein Kind dazu gebracht wird, eine entwicklungsbedingt unangemessene Elternrolle zu übernehmen. Das kann sowohl praktische Aufgaben wie das Bezahlen von Rechnungen, Übersetzen von Dokumenten oder das Betreuen jüngerer Geschwister umfassen, als auch emotionale Verantwortung, bei der das Kind – häufig die älteste Tochter – ein übermäßiges Maß an emotionaler Unterstützung für die Eltern leisten muss. Diese emotionale Parentifizierung ist oft die belastendere und komplexere Form, da das Kind zu einer Art zusätzlichem Elternteil wird.
Gerade in Familien mit mehreren jüngeren Geschwistern oder in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen wird von ältesten Töchtern erwartet, dass sie einen Großteil der physischen und emotionalen Last des Haushalts tragen. Dies kann jedoch zu ernsthaften psychischen Belastungen führen, insbesondere wenn die Balance zwischen Verantwortung und persönlicher Freiheit gestört ist. Zu diesen Belastungen gehören:
- ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl
- übermäßiger Ehrgeiz und Rastlosigkeit
- ständige Sorgen und Angstzustände
- Probleme damit, Menschen zu gefallen
- Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen und einzuhalten (sog. people pleasing)
- intensiver, verinnerlichter Groll gegenüber Geschwistern und Familie
- Kampf mit intensiven Schuldgefühlen
- Schwierigkeiten in familienunabhängigen, erwachsenen Beziehungen
Parentifizierung: Eine Frage der Ausprägung
Es ist wichtig zu betonen, dass Parentifizierung in Maßen auch positive Auswirkungen haben kann. Kinder, die früh Verantwortung übernehmen, entwickeln oft ein starkes Verantwortungsbewusstsein und eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit, was ihnen im Erwachsenenalter zugutekommt. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wann wird diese Verantwortung zu einer Belastung?
Auch ist nicht ausschließlich die älteste Tochter von dieser Dynamik betroffen. Auch Söhne können erheblichem Druck ausgesetzt sein, besonders wenn kulturelle oder gesellschaftliche Rollenbilder zusätzliche Bürden und Hürden mit sich bringen.
Familienstrukturen im Allgemeinen spielen eine große Rolle für das emotionale und psychische Wohlbefinden. Faktoren wie die Anzahl der Kinder, die Beziehung der Eltern zueinander, die sozioökonomische Lage sowie das Verhältnis der Geschwister untereinander beeinflussen maßgeblich die Dynamik innerhalb der Familie. All diese Aspekte wirken sich darauf aus, wie sich die einzelnen Familienmitglieder entwickeln und wie sie mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.
Was tun, wenn die Erwartungen an dich zur Last werden?
Langfristig kann das Eldest-Daughter-Syndrome zu Depressionen, Angststörungen und Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen führen. Hilfreiche Strategien zur Bewältigung sind: Grenzen setzen, Bedürfnisse kommunizieren, Zuständigkeiten delegieren, Selbstfürsorge, Stressreduzierung, Aufbauen unterstützender Netzwerke, Hobbys und Interessen nachgehen, Achtsamkeit und Selbstreflexion üben, sich selbst gegenüber sanft und einfühlsam sein, freundlich und mitfühlend mit dir selbst sein. Vermeide unnötig harte Selbstkritik und übe dich in Selbstmitgefühl, indem du anerkennst, dass du unter deinen besonderen Umständen dein Bestes gebt.
Kennst du dieses Gefühl, als Kind in Elternrollen zu schlüpfen? Erzähle mir gerne davon.
Liebste Grüße
Zara
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