Am 02.08. ist der Internationale Tag des Gedenkens an den Genozid an Sintizzen und Romnja. An diesem Tag erinnern wir an die Nacht des 2. August 1944, in der die SS 4.300 Sintizze und Romnja im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordete. Insgesamt fielen rund 500.000 Sintizze und Romnja in Europa dem Völkermord der Nationalsozialisten zum Opfer.
Doch die Diskriminierung gegen diese Minderheit hält weiterhin an: Die Zahl der registrierten Fälle von Diskriminierung, Drohungen und Gewalt gegen Sintizze und Romnja ist im Jahr 2023 stark gestiegen und erreichte 1.223 Fälle. Darunter befanden sich 10 Fälle extremer Gewalt und 600 Fälle verbaler Stereotypisierung. Zudem leben die Nachfahren dieser NS-Opfer oft ohne gesicherte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland und werden lediglich „geduldet“, wie Mehmet Daimagüler, der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, betont. Unsere Schwerpunktredaktion „zu.flucht“ hat zur Diskriminierung gegen Sintizze und Romnja in den letzten Moanten übrigens vertieft gearbeitet. Hier findest du ihre Beiträge.
Die Geschichte des Leids der Sintizze und Romnja erzählt Ursula Krechel in ihrem Roman „Geisterbahn“. Für mich war dieser Roman ein erster Schritt, um sich intensiv mit der Situation und Geschichte der Sinti und Roma auseinanderzusetzen. Mehr dazu in den Tipps der Woche.
Das Interview
Ein Video, das diese Woche um die Welt ging, zeigt, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan einem Jungen eine Ohrfeige gibt, weil dieser sich weigert, dem Präsidenten die Hand zu küssen. Ein Eklat, sagen die Medien. Auch wenn eine vergleichsweise leichte Ohrfeige im Kontext von Erdoğans repressiven Maßnahmen der letzten Jahre harmlos erscheinen mag, ist sie doch ein Zeichen dafür, wie weit Tyrannen – ich verzichte absichtlich auf Gendern – gehen können und wie schamlos sie im Laufe der Zeit werden. Doch es ist wichtig zu erinnern: Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Es liegt an uns, ob wir unseren Blick auf die Tyrannen richten oder auf diejenigen, die Widerstand leisten.
Widerstand leisten auch die Protagonistinnen des Debütromans von Özge Inan, „Natürlich kann man hier nicht leben.“ Obwohl der Titel verzweifelt klingt, tun Hülya und Selim alles, um „hier“ leben zu können. Doch die politischen Aktivistinnen der 80er Jahre müssen sich letztlich ihrem Schicksal ergeben und finden sich im deutschen Exil wieder, wo sie zwischen zwei Welten zerrissen leben – und ihren Widerstandswillen an ihre Tochter weitergeben.
„Natürlich kann man hier nicht leben“ verknüpft nicht nur die Widerstandsbewegungen in der Türkei, sondern auch mit denen in einer Einwanderungsgesellschaft. Schon mit ihrem Debüt ist Özge Inan zu einer meiner Lieblingsautorinnen geworden. Daher habe ich sie zu ihrem Schreiben befragt, zu Mehrsprachigkeit und zu den Autorinnen, die sie inspiriert haben.
Wie hat deine familiäre Migrationsgeschichte deinen Schreibstil und deine Themenwahl beeinflusst?
Mein Roman erzählt eine politische Familiengeschichte – also nicht nur leicht beeinflusst von meinem eigenen Hintergrund. Ich wollte eine Geschichte aufschreiben, die im deutschen Literaturkanon fehlt. Migration kommt da inzwischen zum Glück immer öfter vor. Aber leider meistens „vom Ende her“, also ab dem Zeitpunkt, an dem die Leute in Deutschland ankommen und dann Kinder kriegen und diese Kinder Probleme mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft bekommen.
Meine Geschichte setzt früher ein, in der Kindheit und Jugend der ersten Generation, immer auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Mein Schreibstil dagegen – klar, knapp, unverblümt – ist eher davon beeinflusst, dass ich ursprünglich Juristin bin. Im juristischen Schreiben gilt: Was überflüssig ist, ist falsch. Das habe ich verinnerlicht.
Welche Rolle spielt die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit in deinem Schaffensprozess? Fühlst du dich manchmal zwischen zwei (oder mehreren) sprachlichen Welten hin- und hergerissen?
Ich habe das komischerweise am meisten im Humor, der ein wichtiger Teil meines Schaffens ist. Es kommt so oft vor, dass mir zu einer Situation ein unfassbar lustiger Spruch einfällt, aber eben auf Türkisch. Wenn niemand türkischsprachiges in der Nähe ist, versuche ich das mit „Auf Türkisch würde man jetzt sagen …“ aufzufangen. Manchmal klappt die Übersetzung, aber manchmal auch nicht, und dann ärgere ich mich schon sehr. Leute, die kein Türkisch können, werden nie erfahren, wie witzig ich bin.
Gibt es bestimmte Autor*innen, die dich besonders inspiriert haben und die vielleicht auch eine Migrationsgeschichte haben?
Meine Lieblingsautorinnen und -autoren haben zwar keine Migrationsgeschichte, aber eine tiefe innere Fremdheit, die ich durchaus damit vergleichen würde: Kurt Tucholsky und Sylvia Plath liebe ich zum Beispiel sehr. Neulich habe ich die Romane von Nele Pollatschek gelesen und war ebenfalls schwer begeistert. Das sind für mich alles Leute, die die Welt aus einer Art sicherer Distanz betrachten und in ehrlicher, schöner Sprache beschreiben.
Foto: Sophia Roßberg
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