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2 Min. Lesezeit Kolumne

Ni de aquí ni de allá – vom Gefühl der Diaspora

Consuelo erzählt vom Gefühl der Diaspora: weder hier noch dort. Über die Frage nach Zugehörigkeit und das Stehen zwischen zwei Welten.

Ni de aquí ni de allá – vom Gefühl der Diaspora

Menschengruppen mit einer Diaspora sind weltweit präsent. Über Generationen werden Herkunftsbezüge aufrechterhalten und ihre Migrationsgeschichte wird mit einem traumatischen Verständnis geleitet. „Weder von hier, noch von dort“ (Ni de aquí ni de allá), bedeutet für mich die Essenz der Diaspora von Mittel- und Südamerika. Sie stellt ein starkes Gefühl eines Limbus dar, ein Zwischenzustand in Bezug auf nationale, kulturelle und ethnische Zugehörigkeit, welche die Identität vieler Menschen dieses Raumes spaltet und verstreut.

Indigene Identitäten und Diaspora

Hier in Chile ist der Begriff Diaspora ein diskutierter Begriff, da Migrationsgeschichten natürlich intersektionell betrachtet werden müssen. Was ist mit den indigenen Identitäten? Die Geschichte des „Jimmy Button“ beweist, wie indigene Völker einen großen Identitätsanspruch auf Diaspora haben:

Orundellico war ein Junge vom Volk der Yaghan, die an der Küste des heutigen Beagle-Kanals lebten. Im Jahr 1832 entführte ihn der englische Forscher und Missionar FitzRoy, begleitet von dem Naturforscher Charles Darwin, zusammen mit Fuegia Basket, York Minster und Boat Memory – ihnen von den Engländern gegebene Namen –, mit der Idee, sie nach London zu bringen. Dort sollten sie „zivilisiert“, also auf englische Art erzogen, sowie als zoologische Kuriositäten ausgestellt werden. FitzRoy erwarb Orundellico für einen niedrigen Preis: einen glänzenden Perlmuttknopf.

Deswegen erhielt er den Namen Jimmy Button. Während des etwas mehr als ein Jahr dauernden Aufenthalts in einer fremden Welt wurde er zu einem Gentleman „umerzogen“ und sogar dem König Wilhelm IV. und der Königin Adelaide präsentiert. Zudem war es FitzRoys Vorhaben, die englische Leitkultur innerhalb Südamerikas zu verbreiten, und deshalb brachte er sie an ihren Herkunftsort zurück.

Als die Entführten jedoch wieder in Patagonien waren, legten sie die englische Unterdrückung ab und wollten ihren Heimatort nicht mehr verlassen. Trotzdem fiel es ihnen schwer, zu den Personen zu werden, die sie einst waren. Orundellico sprach eine Mischung aus Englisch und seiner Muttersprache und selbst sein Volk schien ihn als Fremden zu sehen. Er gehörte weder hier noch dorthin.

"Zu Hause war Chile, vor meiner Haustür war Deutschland"

„Ni de aquí ni de allá“ beschreibt den Zustand einer Person, die sich in Bezug auf ihre Zugehörigkeit nicht eindeutig identifizieren kann. Sie ist weder hier noch dort wirklich zugehörig. Dieses Erlebnis ist vielen Menschen mit Migrationshintergrund bekannt und beeinflusst in vielerlei Hinsicht ihr Leben.

Ich persönlich gehöre ebenfalls zu dieser Gruppe. Als Kind chilenischer Eltern kann man mich als Teil der zweiten Generation von LatinX-Migrant*innen bezeichnen. Zu Hause war Chile, vor meiner Haustür war Deutschland. Hier wurde ich nicht als Deutsche wahrgenommen und dort fühlte ich mich auch nicht als Chilenin. Wenn man mich nach meiner Identität fragte, wusste ich oft nicht, was ich antworten sollte. Das Gefühl, keine klare Antwort geben zu können, löste eine Kettenreaktion von Entfremdung, kultureller Unsicherheit und Identitätsproblemen aus.

Diese Komplexe führten zu weiteren Unsicherheiten und Traumata, die viele Migrant*innen und ihre Kinder teilen. Wir gehören zur Diaspora der zweiten Generation und stehen zwischen zwei Welten. Bei indigenen Menschen stellt das nochmal eine intersektionelle Eigenschaft, da sie sich in ihren eigenen Territorien sich weder von hier noch von dort fühlen. Ihre Zugehörigkeit wurde ihnen systematisch geraubt.

Es ist äußerst interessant zu beobachten, wie die zweite Generation in der Diaspora sich selbst darstellt, Gemeinschaften bildet und nach Zugehörigkeit sucht. Sie nimmt Raum ein, übernimmt die Narrative marginalisierter Gruppierung und verbündet sich über Kulturen hinaus, weil sie eine Sache verbindet: Das Gefühl, sich weder hier noch dort vollkommen zugehörig zu fühlen.

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