Schüsse, vier Stück, drei davon in den Oberkörper, der vierte ist tödlich, er durchdringt einmal den Kopf. Abgegeben durch eine Makarow-Pistole, eine Ikone der sowjetischen Waffentechnologie, eingesetzt in zahlreichen Konflikten weltweit und eine der populärsten Handfeuerwaffen im Ostblock. Am Auslöser ein professioneller Auftragsmörder - schnell, effizient, ohne viele Spuren zu hinterlassen. Seine Identität: Vermutlich Rustam Machmudow.
Ein klarer Angriff auf die Pressefreiheit
Es ist der 7. Oktober 2006. An diesem Tag wird Russlands Präsident Putin 54 Jahre alt. Ein Zufall? Wohl kaum. Vielmehr scheint es, als wolle er sich selber ein ganz besonderes Geschenk machen, indem er seine stärkste und gefährlichste Kritikerin endgültig zum Schweigen bringt. Denn die russische Journalistin Anna Politkowskaja prangerte Putins autoritären und diktatorischen Regierungsstil unermüdlich an. Journalisten und Medienschaffende auf der ganzen Welt sehen ihre Ermordung als einen klaren Angriff auf die Pressefreiheit.
Menschenrechtsaktivistin und Pazifistin
Politkowskaja ist mehr als nur eine engagierte Journalistin gewesen. Sie war Menschenrechtsaktivistin, überzeugte Pazifistin, lehnte Krieg und Gewalt kategorisch und strikt ab. Immer und immer wieder machte sie die Gräueltaten des Tschetschenien-Krieges sichtbar, die Morde an den Soldaten und der Zivilbevölkerung, die Vergewaltigungen der Frauen, die Verschleppung der Kinder.
Auf der Suche nach der Wahrheit
Dazu gehört Mut. Entschlossenheit. Und ein hohes journalistisches Können. Politkowskaja liebte lange und ausführliche Reportagen, recherchierte diese im Vorfeld genau und gründlich, packte all ihre Erkenntnisse, ihre Schlussfolgerung, in eine Sprache, die verständlich für ihre Leser ist. Zuletzt schrieb sie für die im Jahr 2006 noch weitestgehend unabhängige Zeitung Novaja Gazeta. Angetrieben durch das Bedürfnis, die Wahrheit zu finden, arbeitete sie vor allem investigativ. Sie sprach sich offen für die Meinungsfreiheit aus, schreckte dabei auch vor Putins strikter Zensur nicht zurück. In Russland wurde sie daher als Feindin des russischen Volkes betrachtet, erhielt über die Jahre zahlreiche Morddrohungen. Doch Politkowskaja ließ sich nicht einschüchtern, sie recherchierte und berichtete unerschrocken weiter. Dabei versuchte sie immer, neutral zu bleiben, stellte sich weder auf die Seite des russischen Militärs, noch auf die der tschetschenischen Widerstandskämpfer.
“Russisches Tagebuch”
So sind diverse Bücher entstanden. Das bekanntestes ist wohl ihr “Russisches Tagebuch”. Politkowskajas Aufzeichnungen beginnen hier mit Putins Kampagne zu seiner Wiederwahl im Dezember 2003 und enden im September 2005 mit der bestimmenden Frage: “Habe ich Angst?”. Es ist ihr wohl eindringlichstes Werk, in dem sie sorgfältig die Politik ihres Landes dokumentierte. Ebenso wichtig war ihr immer auch, die Bevölkerung, die einfachen Menschen, die Arbeiterklasse zu Wort kommen zu lassen. Eben diejenigen, die unter dem Krieg am meisten zu leiden haben. Sie sprach mit den verzweifelten und trauernden Müttern, die ihre Söhne in dem sinnlosen Krieg verloren hatten, dokumentierte den Kampf dieser Frauen um die Würde und Rechte ihrer Söhne.
Angst, Rechtlosigkeit und Korruption
Das “Russische Tagebuch” beschreibt detailliert ein Klima der Resignation, der Angst und der Rechtlosigkeit. Politkowskajas kritisiert darin aber nicht nur Putins grausames Vorgehen, sondern auch die mutwillige Blindheit und Ignoranz des Westens gegenüber den klaren Missständen in ihrer Heimat. Und auch die Korruption im russischen Verteidigungsministerium war immer wieder Thema ihrer Recherchen. Dadurch hat sich Politkowskaja viele Feinde gemacht und bezahlte ihren Mut schlussendlich mit dem Leben.
Die Suche nach den Hintermännern
Die Vermutungen, Theorien, Spekulationen darüber, wer Politkowskaja am Abend des 6. Oktober 2006 vor dem Fahrstuhl in ihrem Moskauer Wohnhaus ermordet hat, sind zahlreich. Eine weit verbreitete Theorie besagt, dass der Mord an Politkowskaja von staatlichen, russischen Akteuren in Auftrag gegeben wurde, mit Verbindungen zum Kreml und dem russischen Geheimdienst. Eine weitere Vermutung ist, dass tschetschenische Führer, insbesondere der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow, in den Mord verwickelt sein könnten. Politkowskaja hatte Kadyrow und seine Anhänger ebenfalls mehrfach kritisiert und auch ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Es wird spekuliert, dass Kadyrows Umfeld aus Rache oder zur Verhinderung weiterer Enthüllungen den Mord in Auftrag gegeben haben könnte.
Der Prozess und die Verurteilungen
Im Jahr 2014 wurden fünf Männer für den Mord an Politkowskaja verurteilt, darunter der mutmaßliche Schütze Rustam Machmudow und sein Onkel Lom-Ali Gaitukajew, der als Drahtzieher des Mordes gilt. Es wurde jedoch nie abschließend geklärt, wer den Mord tatsächlich in Auftrag gegeben hat. Viele Beobachter und Kritiker sind der Meinung, dass die eigentlichen Hinterleute nie zur Rechenschaft gezogen wurden und dass die Verurteilungen nur die direkten Ausführenden betrafen, während die wahren Drahtzieher weiterhin im Verborgenen bleiben.
Bis heute ungeklärt
Politkowskajas Ermordung zeigt einmal mehr, wie gefährlich es ist, sich mit den Mächtigen anzulegen. Ihr unermüdlicher Einsatz für die Wahrheit, ihre Entschlossenheit, Unrecht aufzudecken, und ihr Mut, gegen Korruption und Unterdrückung zu kämpfen, sind beispiellos. Solange jedoch die wahren Hintermänner dieses Verbrechens nicht zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt die Frage nach Gerechtigkeit unbeantwortet. Ihr Tod ist vor allem eines: Eine Mahnung, dass die Freiheit der Presse niemals selbstverständlich ist. Sie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Und dafür braucht es mutige und unerschrockene Journalisten – wie eben Anna Politkowskaja.
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