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2 Min. Lesezeit Allgemein

Mit offenen Augen auf Sarah warten

Ein ganzes Leben kann nicht in einen Koffer passen. Was bleibt nach der Migration zu Hause zurück, das nicht mitgenommen werden kann?

Mit offenen Augen auf Sarah warten
Fotograf*in: Sandy Millar auf unsplash

Ich war keine gewöhnliche Puppe, die ruhig auf dem Regal in der Ecke von Sarahs Zimmer saß. Ich war an ihrer Seite, bei ihren Sorgen und Freuden. An den Tagen, an denen ihre Freunde sie in der Schule neckten, umarmte mich Sarah und weinte. Manchmal weinte ich mit ihr, aber sie verstand es nicht.

Sarah und ich sind zusammen, seit Sara neun Jahre alt ist. Ihr Vater hat mich ihr gegeben. Ich war an all ihren Geburtstagen bei ihr und habe von jedem Geburtstagskuchen Bilder im Kopf.

Aber jetzt ist es, als hätte sie mich vergessen, als hätte ich nie existiert. Alles geht auf den Tag ihrer Auswanderung zurück. Als sie ihr Studium in Deutschland fortsetzte, nahm sie ihren Koffer, ihre Bücher und ihre persönlichen Gegenstände mit. Ich auf dieser Reise kein Passagier.

Ich wusste die ganze Zeit nicht, ob es Sarah gut ging oder nicht. Ich konnte nur die Ohren offenhalten, um zu hören, was sie am Telefon sagte, wenn sie mit ihrer Familie telefonierte. Einmal war Sarahs Mutter hier und putzte ihr Zimmer und Sarah rief per Videoanruf an. Ich neigte meinen Kopf, um Sarah zu sehen, doch ich fiel vom Regal und kann meine Augen seitdem nicht mehr schließen. Jetzt warte ich mit offenen Augen auf Sarah, doch es wird sich lohnen.

Letzte Woche erzählte Sarahs Vater ihrem Onkel, dass sie zwei Wochen freihat und nach Hause kommen wird. Ich freue mich wirklich darauf, Sarah wiederzusehen.

Ich finde Migration seltsam. Man muss alles in einen Koffer packen und losfahren. Aber passt denn alles Wichtige in nur einen Koffer? Was ist mit den Eltern und der Familie? Wo hast du deine Freunde gelassen? Da war selbst für mich, ihrer Kindheitspuppe, kein Platz.

Ich warte immer noch mit offenen Augen darauf, dass Sarah kommt, aber wird unsere Beziehung, trotz all der Veränderungen, dieselbe sein? Liebt Sarah mich immer noch so sehr wie zuvor, oder hat sie in ihrem neuen Zuhause vielleicht eine neue Puppe gefunden, die gesund ist und nicht immer die Augen offen hat?

Als sie mich verließ, nahm sie mir all mein Glück. Vielleicht ist dies das Merkmal der Migration, für alle, die weit entfernt sind von ihren Lieben.

Dieser Text ist im Schreibtandem entstanden. Lies hier mehr über das Projekt – vielleicht möchtest auch du mitmachen?

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