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Migrantische Perspektiven zur Bundestagswahl: Die Spuren des Wahlkampfs

Am Sonntag fand die Bundestagswahl statt. In den vergangenen Wochen fiel im Wahlkampf der Parteien dabei vor allem ein Schlagwort: Migration.

Migrantische Perspektiven zur Bundestagswahl: Die Spuren des Wahlkampfs
Fotograf*in: Elif Çelik

„Wenn ich die Parteiprogramme durchlese, wird mir angst und bange“, berichtete Carmen Colinas vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften noch einige Wochen vor dem Wahlsonntag. Große Hoffnungen setzte sie sowieso nicht in den Regierungswechsel. In ihrer Arbeit begegnet sie häufig Familien, die bereits in zweiter, dritter oder sogar vierter Generation in Deutschland leben. Eltern berichten ihr, dass ihre Kinder aus der Schule heimkommen und plötzlich fragen, wie lange sie noch in Deutschland bleiben dürfen. Angst mache sich breit. Laut Colinas sei die Migrationsdebatte schon seit Jahren negativ belastet. Denn sie werde in der Politik meist als Problem dargestellt, und das führe dazu, dass viele wichtige Fragen unbeachtet blieben. Sie denkt dabei zum Beispiel an Paare, die sich im Ausland kennengelernt haben und nun gemeinsam in Deutschland leben möchten. „Wie sieht es aus mit Integrationskursen, mit Mehrsprachigkeit in der Schule oder mit dem Antirassismusbeauftragten des Bundes?“, fragt sie.

„Die realen Probleme werden (…) kaschiert“

In ihrer Bewertung der Wahlkampfthemen unterschieden sich Menschen mit Migrationshintergrund kaum vom Rest der Bevölkerung. Wie alle anderen sorgen sie sich im Moment vor allem um ihre finanzielle Lage, die Auswirkungen der Inflation und die gesetzliche Altersvorsorge. Dazu bereitet auch das Erstarken extremistischer Ansichten vielen Unbehagen.

Die Politikwissenschaftlerin Simin Jawabreh kritisiert, dass Migration zum zentralen Wahlkampfthema gemacht wurde. Dadurch rücke der Fokus von anderen drängenden Problemen ab. „Das Thema wird zum Steigbügelhalter eines neuen Law & Order-Auftretens. Die realen Probleme werden damit kaschiert“, bemängelt sie. Fragen wie bezahlbare Mieten oder der Schutz sozialer Sicherungssysteme hätten dabei zu wenig Beachtung gefunden.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland etwa 17,1 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte – entweder sie selbst oder ihre Eltern sind nach Deutschland eingewandert. Von ihnen waren 7,1 Millionen auch stimmberechtigt. Im Schnitt leben diese wahlberechtigten Einwanderer*innen bereits seit 32 Jahren in Deutschland.

Die Künstlerin Elif Çelik, Tochter türkischer Eltern, ist in Ulm aufgewachsen. In ihrer Kunst setzt sie sich mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Bedingungen auf ihre deutsch-türkische Identität auseinander. Mit ihrer Malerei eröffnet sie einen Diskurs darüber, wie migrantische Menschen ständig unter Beobachtung stehen, weil sie nicht den Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechen. Das Erstarken der rechten Parteien bei der Bundestagswahl löst in ihr manchmal Auswanderungsgedanken aus. „Früher dachte ich oft, dass ich meine türkische Staatsbürgerschaft irgendwann ablegen würde, aber mittlerweile kommt das für mich nicht mehr infrage“, sagt die Doppelstaatlerin. Zwar gebe es auch in der Türkei repressive Strukturen, doch dort hätte sie zumindest eine Alternative, wenn es in Deutschland zu heikel werden sollte.

„Es fühlt sich an wie ein Dolch im Rücken“

Laut einer Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) glauben Migrant*innen in Deutschland seltener daran, dass Politik und Wahlen ihre Lebensrealität verbessern können. Diesen Pessimismus beobachtet Çelik auch in ihrer Familie. Ihre Mutter, die als Kind türkischer Gastarbeiter*innen nach Deutschland kam, fühlt sich hier derzeit so unwohl wie noch nie. „Sie fühlt sich ausgenutzt“, sagt Çelik. Die Gastarbeiter*innen hätten maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands beigetragen, doch nun scheine es, als seien sie überflüssig geworden. „Es fühlt sich an wie ein Dolch im Rücken“, so Çelik.

Als am Wahltag die ersten Hochrechnungen veröffentlicht wurden, lag die CDU deutlich vorne und auch die AfD erzielte das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Beide Parteien forderten in ihren Wahlprogrammen unter anderem die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft.
Wenn Çelik sich ausmalt, wie ihr Leben unter einer streng konservativen Regierung aussehen könnte, unterscheidet sie allerdings zwischen Politik und Alltag: gesetzliche Änderungen bekomme man im Alltag oft erst später mit. Viel größere Sorgen bereiten ihr jedoch die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch konservative Politikerinnen angestoßen würden. „Vielleicht werde ich in Zukunft an bestimmten Orten Angst haben“, überlegt sie. Laut einer DeZIM-Studie aus dem Januar dieses Jahres wächst bei vielen weiteren Migrantinnen die Sorge, Opfer von Gewalttaten zu werden. Besonders Menschen mit Wurzeln in der Türkei und der MENA-Region („Mittlerer Osten“ und Nordafrika) fürchten Rechtsextremismus stärker als andere Gruppen.

Die Bundestagswahl fand in einer kritischen Phase für Deutschland statt. Damit möglichst viele der stimmberechtigten Migrantinnen ihre Stimme abgeben, hatte der Verein Mosaiq e.V. bereits zur Europawahl 2024 die Aktion „QWAHL“ ins Leben gerufen. Die Organisation setzt sich für die Belange von Musliminnen ein und rief auch 2025 zur Wahlteilnahme auf. In einem Video auf ihrer Website erklärten verschiedene Menschen, warum es sich lohne, wählen zu gehen. Ein junger Mann erinnerte daran, dass das Wahlrecht in Deutschland nicht immer selbstverständlich war – viele Gruppen, darunter Frauen, Menschen aus der Unterschicht und Migrantinnen, mussten es erst erkämpfen. Historisch gesehen wurde die Mitbestimmung in der Gesellschaft also immer diverser. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in der Kunstszene wider. Çelik erinnert sich: „Anfangs fühlte ich mich dort wie ein Alien, aber vor Kurzem wurde ich gezielt von anderen jungen Migrantinnen eingeladen, um in der Bremer Kunsthalle auszustellen.“ Ihr Fazit: „Wir haben ein Mitspracherecht – und das gibt mir Hoffnung.“

Das Bild zu diesem Beitrag stammt von der Künstlerin Elif Çelik. Sie sagt über das Kunstwerk: „Die Wahrnehmung der Wahlergebnisse in Deutschland erweckt in mir das Gefühl, dass alles auf dem Kopf steht. Dieses Gefühl spiegelt sich auch in meinen Bildern wider, vor allem dann, wenn ich mich in meinem Land nicht ganz zu Hause fühle. Erst während meiner Schulzeit wurde mir bewusst, wie groß die Verantwortung und Last ist, die ich trage, um meinen Privilegien gerecht zu werden. Als Kind von Migranten ist es keineswegs einfach, gesellschaftlich und akademisch aufzusteigen. Meine Kunstwerke drücken diesen inneren Zwiespalt und meine Fragen nach Zugehörigkeit aus.“

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