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migrantisch gelesen: die erste Ausgabe

Willkommen zu „migrantisch gelesen“, dem kohero Newsletter zu Buch und Literatur. Diesmal hat Omid neben Leseempfehlungen auch ein Interview mit Autorin Ronya Othmann.

migrantisch gelesen: die erste Ausgabe
Fotograf*in: Joyce Hankins auf unsplash

Mein Name ist Omid Rezaee, freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur ersten Ausgabe von „migrantisch gelesen“!

Als die Hamas Israel am 7. Oktober letzten Jahres angriff, war ich auf einer Medienkonferenz und konnte nicht ahnen, dass dieser Angriff DAS Thema unserer politischen Debatten wird. Der Nahost-Konflikt wird in Deutschland polarisierter geführt als in Israel selbst, so der israelisch-deutsche Pädagoge und Publizist Meron Mendel in seinem Buch „Über Israel reden: Eine deutsche Debatte“. Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank beschreibt anhand seines Lebens in Israel und seiner Begegnungen in Deutschland, was bei der Palästina-Israel-Debatte hierzulande schiefläuft. Er hört jedoch nicht bei der Kritik auf, sondern macht konkrete Vorschläge, wie wir – anstatt ideologisch geprägter Diskussionen – einen konstruktiven Diskurs aufbauen können.

Kleiner Exkurs: Wer verstehen möchte, wie das durch die Shoa zugefügte Leid andere Debatten im deutschen Kontext beeinflusst, dem empfehle ich das Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen“ von Charlotte Wiedemann.

Und da wir beim Thema Schmerz sind: Als im Sommer 2014 der IS die kurdischen Gebiete des Irak überfiel, wohnte ich noch in Silêmanî und erlebte aus nächster Nähe, wie vor den Augen der Welt ein weiterer Genozid an Êzidîn verübt wurde. Zehn Jahre nach diesem Ereignis, einem Wendepunkt im Kriegsverlauf, geht Ronya Othmann dem Thema nach. Die deutsch-kurdische Autorin erzählt in ihrem neuen Roman nicht nur von diesem Genozid, sondern auch vom Leid der Êzidî-Community im Laufe der Geschichte. Mein Interview mit Ronya Othmann liest du weiter unten im Newsletter.

Abschließend möchte ich eine gute Nachricht teilen: Laut einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung schneidet Deutschland bei der Integration von Geflüchteten gut ab, besser als viele andere EU-Länder. Diese Nachricht erinnert mich an die These des Soziologen Aladin El-Mafaalani: Konflikte und Spannungen rund um das Thema Migration sind kein Zeichen von gescheiterter Integration. Sie zeigen, dass die Integration relativ gut gelungen ist. Mehr Menschen haben nun Anteil an einem Kuchen, der früher nur einem bestimmten Milieu gehörte. Die Konflikte sind Reaktionen jener Minderheit, die an Macht und Einfluss verliert, während die Mehrheit gewinnt. Auch wenn diese Ansicht optimistisch klingt, bietet sie einen anderen Blick auf die aktuellen Spannungen.

Ich freue mich darauf, mit dir in die Themen der migrantischen Literatur einzutauchen. Viel Spaß beim Weiterlesen!

Tipps der Woche

Über Israel reden: Eine deutsche Debatte

Meron Mendel, Kiepenheuer & Witsch

„Über kaum ein anderes Land wird in Deutschland so viel geredet und gestritten: Zu Israel hat jeder eine Meinung.“ Das Buch des israelisch-deutschen Pädagogen Meron Mendel analysiert einige dieser Meinungen zu Israel und zum sogenannten Nahost-Konflikt und geht auf die Frage ein, warum die deutsche Debatte über Israel sich oft von Vernunft und Rationalität abwendet und der Polemik nähert. Der Direktor der Bildungsstätte Anne-Frank stellt die Prinzipien einer sachlichen Debatte zu Israel und zeigt uns, wie man über dieses Land und diesen Konflikt sprechen kann, ohne sich von Emotionen aufhetzen zu lassen.

Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führtAladin El-Mafaalani, Kiepenheuer & Witsch

Aladin El-Mafaalani beleuchtet das überraschende Phänomen, dass erfolgreiche Integration zu vermehrten Konflikten führt. Mit vielen Beispielen und historischen Rückblicken zeigt er, dass gesellschaftlicher Fortschritt und die Inklusion marginalisierter Gruppen oft zu Spannungen und populistischen Reaktionen führen. El-Mafaalani argumentiert, dass Konflikte ein unvermeidlicher Teil des Integrationsprozesses sind und neu bewertet werden sollten. Sein Buch bietet wertvolle Einsichten und fordert dazu auf, die Integrationsdebatte differenziert und konstruktiv zu führen. Ein wichtiger Beitrag zur andauernden Diskussion über Integration, Teilhabe und gesellschaftlichen Wandel.

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“Wir schreiben alle über Themen, die sich uns aufdrängen”

Foto @Paula Winkler

Ronya Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters, ist 31 Jahre alt und hat bereits mehrere Preise für ihre Schriften gewonnen. Zuletzt den Düsseldorfer Literaturpreis 2024 für ihre Neuerscheinung „Vierundsiebzig“.
Ich habe mit ihr über das Schreiben gesprochen.

Ronya, du hast einen außergewöhnlichen Stil für Dein neues Werk gewählt: Es ist ein Roman in Form einer Reisereportage. Wie kam es dazu?

Der Stoff, also das, was ich erzähle, gab die Form vor. Bevor ich angefangen habe zu schreiben, stand die Reise. Ich bin gereist, ohne dass ich vorhatte, etwas zu schreiben. Ich habe gesehen und gehört und das, was ich gesehen und gehört habe, habe ich aufgeschrieben. Ich würde die Form „Dokumentarischer Roman“ nennen, der Roman nimmt viele Formen in sich auf: Reisereportage, Protokoll, Erzählung, Essay.

Inwiefern fließen Deine persönliche und familiäre Biografie tatsächlich in den Roman ein?

Ich schreibe ja im Roman über den Genozid an den Êzidîn. Verwandte von mir sind vor diesem Genozid geflohen. Die êzîdische Geschichte ist Teil meiner Familiengeschichte, Teil meiner Geschichte. Ich konnte sie nicht abstreifen, und von außen draufschauen, als hätte das alles nichts mit mir zu tun. Ich hatte nur meine Augen und Ohren und so ist sie Teil des Romans, aber der Roman ist kein Familien-Roman, keine Biographie.

Du bist eine der bedeutendsten Stimmen mit Migrationsgeschichte in der deutschsprachigen Literatur. Worin unterscheidet sich Deine Literatur?

Ich weiß nicht, wo die Unterschiede sind. Wir schreiben alle über Themen, die sich uns aufdrängen oder die uns beschäftigen, wir suchen nach einer Sprache. Auch wir Autor*innen mit Migrationsgeschichte unterscheiden uns, was die Themen betrifft, die Sprache, die Form. Meine Freundin Kaska Bryla, die die Literaturzeitschrift „politisch Schreiben“ mitbegründet hat, hat es einmal so ausgedrückt: „Es gibt keine Frauen- und Minderheitenliteratur. Frauen- und Minderheitenliteratur müssen wir fördern.“

Vierundsiebzig

Ronya Othmanns neues Werk ist kraftvoll und erschütternd und dokumentiert die Schrecken des Genozids an den Jesiden 2014 eindrucksvoll. Othmann, selbst Tochter eines Êzîdi-Vaters, verwebt autobiografische Elemente mit Reportage und Reiseberichten, um die Leserinnen durch die Geschichte und das Leid ihres Volkes zu führen. Die Erzählung nimmt die Leserinnen mit auf eine Reise von den Camps der Überlebenden bis zu verlassenen êzîdischen Dörfern, schildert die Grausamkeiten und die seelischen Verwüstungen der Betroffenen und zeigt die Herausforderungen des Erinnerns und Erzählens auf.

Trotz der nüchternen und direkten Sprache gelingt es der Autorin, die emotionale Tiefe und Tragweite der Ereignisse zu vermitteln. Ihr Buch ist nicht nur eine bedeutende literarische Auseinandersetzung mit dem Genozid, sondern auch ein wichtiges Zeitzeugnis, das dem Unaussprechlichen eine Stimme gibt und eindringlich daran erinnert, hinzusehen und zuzuhören.

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