Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen. Schon in prähistorischen Zeiten hing sein Überleben maßgeblich von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ab. Diese sozialen Gemeinschaften boten Schutz vor Gefahren und ermöglichten die Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten. Im Laufe der Jahrtausende hat sich nicht nur der Mensch, sondern auch die Form des sozialen Miteinanders gewandelt. Aus ursprünglich kleinen Stammesgesellschaften entwickelten sich komplexe Gemeinschaften, Städte und ganze Zivilisationen.
Einsamkeit, auch in Gesellschaft
Trotz dieser weitreichenden Veränderungen besteht der Kern unserer sozialen Natur nahezu unverändert fort. Auch heute noch suchen wir die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen, beispielsweise in Form von Freundschaften, Familien, beruflichen Netzwerken oder Interessensgemeinschaften. Diese Verbindungen bieten uns emotionale Unterstützung und geben uns das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein. Fällt diese Bindung weg, droht uns die Einsamkeit, welche eine der größten Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft ist.
Allerdings, so habe ich nun immer öfter beobachtet, bedarf es dafür nicht zwingend einer physisch-reellen Isolation von anderen Menschen. Vielmehr kann man sich auch innerhalb einer großen Gruppe von Menschen einsam fühlen, selbst wenn man glaubt, ein Teil von ihr zu sein.
Als ich an die Universität gekommen bin, habe ich mich in einer solchen Lage wiedergefunden. Dort musste ich das erste Mal feststellen, dass man sich selbst unter hunderten von höchst verschiedenen Menschen wie ein Außerirdischer fühlen kann. In einem Topf voll einander fremder Menschen gibt es eine Sache, die sofort Hemmungen abbauen und jede vermeintliche Grenze sprengen kann – Alkohol.
Warum verlangt Abstinenz eine Rechtfertigung?
Doch was tun, wenn man diesen nicht trinkt? Ich persönlich würde empfehlen, sich eine gute Rechtfertigung der eigenen Abstinenz zu überlegen; und zwar bestenfalls eine, die in den Ohren von Menschen aus allerlei Kulturen und Gesellschaftsschichten plausibel und wasserdicht ist. Denn genau hier beginnt die tatsächliche Problematik. Die einfache Frage nach dem Grund, weshalb man keinen Alkohol trinkt, mag auf den ersten Blick harmlos erscheinen – das ist sie aber nicht. Denn um diese Frage zu beantworten, muss man nicht selten höchst persönliche Informationen preisgeben und sich verletzbar machen.
Für viele Menschen fußt der Verzicht auf Alkohol in ihrer religiösen Überzeugung. Das Offenlegen dieser Praxis kann aber gerade unter jüngeren Leuten dazu führen, dass die Befragten sich erklären müssen und dabei unter Umständen auch mit Vorurteilen oder unangenehmen Kommentaren zur Religion konfrontiert werden.
Andere wiederum trinken keinen Alkohol, weil sie eine Leidensgeschichte durchlebt haben, in der Alkoholismus eine zerstörerische Rolle gespielt hat. Solche schmerzhaften Erfahrungen möchte man verständlicherweise nicht jedem preisgeben – doch die schnell gestellte Frage nach dem „Warum“ zwingt einen fast dazu. Trotzdem kann es auf Dauer keine Lösung sein, sich für diese Frage eine erfundene Standardfloskel zurechtzulegen, nur um nicht als Spielverderber oder unhöflich abgestempelt zu werden.
Niemand mag ein Kreuzverhör
Die Frage nach dem Alkoholkonsum ist dabei nur ein Beispiel von vielen. Sinnbildlich steht sie für eine ganze Reihe problematischer Fragen, die in unserer Gesellschaft regelmäßig gestellt werden. Dabei handelt es sich nicht selten um Fragen, welche tief in persönliche und oft schmerzvolle Bereiche eindringen. Dabei werden gerade auf Menschen mit Migrationsgeschichte im Kreuzverhör häufig die eigenen Vorurteile projiziert, was zur Folge hat, dass diese sich bedrängt und unwohl fühlen. Insbesondere das ständige Abverlangen von Rechtfertigungen begünstigt die soziale Abschottung, weil Viele es irgendwann Leid sind, sich immer wieder erklären und für andere verbiegen zu müssen.
Dieser Umstand führt zu einer ungesunden Dynamik, in der Menschen sich zunehmend voneinander entfremden. Sie vermeiden soziale Interaktionen, aus Angst, sich erneut für ihre Lebensentscheidungen rechtfertigen zu müssen. Dies verstärkt das Gefühl der Isolation und Einsamkeit immens, selbst wenn man sich physisch unter Menschen befindet. So saß auch ich öfter, als mir lieb ist, verstummt und in mich gekehrt an langen Tischen, während sich links und rechts von mir alle bei bester Laune Gesellschaft leisteten.
Nur dabei statt mittendrin
Das Gefühl der Einsamkeit verschwindet eben nicht, nur weil man eine Cola in der Hand hält; denn während die anderen durch den gemeinsamen Konsum von Alkohol Hemmungen abbauen und sich näher kommen, bleibt man als Abstinenzler*in oft außen vor. Man ist dabei, aber nicht wirklich mittendrin; man hört die Gespräche, sieht das Lachen, aber spürt eine unsichtbare Barriere, die einen von der Gruppe trennt.
Die ironische und bittersüße Wahrheit ist, dass mir die gefühlt einzig echte Gesellschaft an solchen Abenden oft das Stückchen Zitrone an der Oberfläche meiner Cola war. Doch haben mich solche Abende gelehrt, dass ich mich nicht verbiegen muss, nur um Anschluss zu finden und bloß nichts zu verpassen. Wenn wir als Gesellschaft wirklich inklusiv sein wollen, müssen wir lernen, die Entscheidungen anderer zu respektieren, ohne sie zu hinterfragen. Ansonsten laufen wir Gefahr, gegen die Natur des Menschen zu handeln. Denn am Ende des Tages sehnen wir uns alle nach demselben: Akzeptanz, Verständnis und das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein.
In einer idealen Welt könnten wir dann vielleicht sagen: „Setz dich einfach dazu“ und es würde wirklich ausreichen. Bis dahin bleibt es jedoch eine Herausforderung, die wir gemeinsam angehen müssen, um die Mauern der Einsamkeit ernsthaft und auf Dauer zu durchbrechen.