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Matthäus und Anna Weiß: ein Leben für Sichtbarkeit der Sinti und Roma

Matthäus Weiß und Anna Weiß sind seit 45 Jahren Teil des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Schleswig-Holstein. Im Gespräch erzählten sie von ihrem bewegten Einsatz um Sichtbarkeit, Gleichberechtigung und das Erinnern an vergangene Zeiten.

Matthäus und Anna Weiß: ein Leben für Sichtbarkeit der Sinti und Roma
Fotograf*in: Hendrik Heiermann

„Die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damit die Kinder lernen können, wie es einmal war und wie es heute ist“, darum geht es Matthäus Weiß, wenn er seinen Enkelkindern von seiner Mutter erzählt. Am 16. Mai 1940 wurde sie zusammen mit anderen Kieler Sinti*zzen ins besetzte Polen und unter anderem im Vernichtungslager Treblinka inhaftiert.

„Wir sind froh und dankbar, dass es heute die Kinder nicht mehr so betrifft, wie es früher war"

„Das war ich als Kind, hier in Kiel“, Matthäus Weiß zeigt auf Bilder einer Broschüre des Landesverbandes für Deutsche Sinti und Roma, die er und seine Frau Anna Weiß für das Gespräch vorbereitet haben. In der Eisenbahnwagonsiedlung in der Preetzerstraße habe er damals, nach dem Krieg, gelebt. Die Schwarz-Weiß-Fotos zeigen das von Zerstörung gezeichnete Kiel der 1950er Jahre. Auch vor den einfachsten Wohnverhältnissen hat die Verwüstung keinen Halt gemacht; schnell ist klar, Matthäus Weiß, der Vorsitzende des Landesverbands, erklärt sich und seine Community nicht zum ersten Mal. Ohne eine Frage zu stellen, beginnt er zu erzählen, zu reflektieren und vor allem eins, zu erinnern.

Wenn sie mal Urlaub machen, „wo sie akzeptiert werden“, pflichtet Weiß bei, reisen sie mit ihrer gesamten Familie und erzählen von früher. „Wir sind froh und dankbar, dass es heute die Kinder nicht mehr so betrifft, wie es früher war“, und so sollen sie die Geschichte seiner Mutter verstehen und im Herzen tragen. 1949, wird Matthäus Weiß als Ältester von 14 Geschwistern geboren.

Seine Frau Anna, die er 17 Jahre später in Hamburg kennenlernen wird, ist 1947 auf Sardinien geboren und kommt in den 1950er Jahren als Kind italienischer Gastarbeiter*innen nach Norddeutschland. Anna Weiß, ebenfalls im Landesvorstand, sitzt neben ihm im Kulturzentrum „Djido Kher“ in Kiel und erinnert an den über 45 Jahre andauernden politischen Kampf um Gleichberechtigung.

„Es kann doch nicht sein, dass Tiere mehr Rechte haben als wir“

„Irgendwann habe ich ganz einfach gesagt, ich werde die Tür zu machen und alle Menschen, die bedürftig sind von uns, entweder in den Landtag oder direkt ins Ministerium hineinbringen, und zwar mit all ihren Problemen“, erklärt Matthäus Weiß über die Gründung des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma. Über zehn Jahre hat das Ehepaar Weiß den Verband aus eigener Tasche finanziert, weil sie keine politische Unterstützung erhalten haben. Erst 1990 wurde der Verband dann offiziell anerkannt und wurde damit auch finanziell unterstützt.

Jedoch kamen die Gelder zunächst aus dem Sozialamt, was laut Weiß zu einer direkten Ressentimentschürung gegen Sinti und Roma führte. Entschlossen setzte er durch, dass ein politischer sozialer Verband für Gleichberechtigung ebenfalls vom Finanzministerium unterstützt werden solle. 2012 schaffte man es dann, nach etlichen Gesprächen politischer Vertreter*innen, die Koalition unter dem damaligen Ministerpräsidenten Torsten Albig (SPD) im schleswig-holsteinischen Parlament davon zu überzeugen, Sinti und Roma im gesamten Bundesland als eingetragene und geschützte Minderheit mit politischem Mandat zu verankern. „Es kann doch nicht sein, dass Tiere mehr Rechte haben als wir“, sagt Weiß.

Spricht er von einem kollektiven wir, spricht er von allen Sinti und Roma der Welt. Die Ursprünge liegen im heutigen Indien und durch die verschiedenen Migrationsbewegungen nach Osteuropa (Roma) und in die deutschsprachigen Gebiete (Sinti) haben sich die Sprache und teilweise auch die Gebräuche stark verändert. Er verstehe auch Romani, die Sprache der Roma, in Alltagsgesprächen, doch für einen Behördengang benötigen sie die Hilfe des Vereins „Rom und Cinti Union“ aus Hamburg.

Bildungsarbeit, Unterstützung beim Wohnen wie mit dem Wohnprojekt „Maro Temm“ („Unser Platz“) in Kiel oder die Hilfe bei Behördengängen stehen auf der alltäglichen Agenda des Verbandes. Das generationsübergreifende Wohnprojekt, welches von Kritiker*innen zunächst als „Ghetto“ bezeichnet wurde, sei ein Ort des Zusammenkommens und des Begegnens. „Ich lasse den Schlüssel immer stecken“, sagt Matthäus Weiß, während seine Frau schmunzelt. Abends nehme sie ihn dann zu sich, um am nächsten Tag wieder aufzuschließen, „für alle, die uns brauchen, deshalb machen wir auch unsere Stadtteilfrühstücke“, pflichtet sie ihrem Ehemann bei.

Einmal im Monat öffnen sie auch die Türen ihres Büros und veranstalten ein Frühstück des Miteinanders. „Man braucht den Menschen dabei gar nichts zu sagen. Türken, Rumänen, Jugoslawen, Araber, Menschen aus Afrika, sie kommen an, und alle merken dann, dass es hier ein offenes Ohr für jedermann gibt. Sie unterhalten sich dann über gemeinsame Probleme und wir versuchen sie dann dazu zu bringen, sich auszutauschen, um dann aber auch irgendwann zu einer Lösung zu kommen“, sagt Matthäus Weiß.

„Die Arbeit war und ist unser Leben"

Sinti und Roma sind geprägt durch unfassbare Migrationsgeschichten. „Die Leute hier können sich gar nicht vorstellen, dass es andere Menschen gibt, die heutzutage noch auf Müllhalden leben.“ So habe das Ehepaar mal eine Familie im Wald gefunden, welche dort tagelang übernachtet hatte. Die Kinder konnten sie ärztlich versorgen und Weiß konnte mit seinem Landesverband für finanzielle und politische Unterstützung für die Familie sorgen.

Bis der Herrgott sie hole, werde er dieser Arbeit nachgehen, ist sich der 75-jährige Vorsitzende sicher. „Die Arbeit war und ist unser Leben und Teil unserer Beziehung“, erklären die beiden lächelnd, „wir könnten gar nicht ohne.“

Matthäus Weiß hat sich ein ganzes Leben für die Rechte der Sinti und Roma eingesetzt. Er lehnt das Wort „Antiziganismus“ per se ab, weil seiner Meinung nach nur die Verwendung des Wortes Vorurteile schüre. Ihm sind die Bildungsarbeit und die Diskussion sehr bewusst, doch er selbst verwende einen solchen Begriff des Hasses nicht. Er verweist auf Menschen wie Herrn Merz oder Söder, aber auch andere Parteien am äußeren rechten Rand des politischen Spektrums, die den politischen Diskurs über die letzten 31 Jahre, in denen er sein Amt bekleidet hat, stark verschärft haben.

"Mein Wunsch ist es, dass die Menschen noch mehr aufeinander zugehen"

Weiß möchte alles dafür geben, keine Wörter zu verbreiten, welche die Sprache weiter vergiften. Er und „seine Leute“ tragen über Generationen eine Traumatisierung durch die Verbrechen der Vergangenheit mit sich, weshalb die Geschichte seiner Mutter so wichtig ist. Dieses Trauma werde man auch nicht einfach so ablegen können.

Zum Schluss appelliert Matthäus Weiß: „Mein Wunsch ist es, dass die Menschen noch mehr aufeinander zugehen, um sich in die Augen schauen zu können. Es hat mit der Politik in diesem Sinne nichts zu tun. Die Menschen, wir haben es angeschoben. Wir wollen es weitertragen, sodass die Mehrheitsbevölkerung, die Sinti, die Roma, aber auch jeder andere miteinander reden kann, ohne sich gegenseitig etwas vorzuwerfen, ohne sich zu hassen. Alles, was blond und blauäugig ist, ist kein Nazi. Alles, was schwarz oder dunkel ist, ist kein Terrorist. Aber es geht nur, wenn man miteinander redet.“

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