„In der Türkei gibt es zwei Arten von Menschen“, sagte einmal eine Freundin zu ihr, „die Guten und die Schlechten. Die Guten sind die Sunniten, die Schlechten die Aleviten.“ Für Leyla Bektaş war dieser Satz ein Wendepunkt. „Scheiße, ich glaube, ich bin Alevitin“, dachte sie damals – ein Moment, der lange bei ihr blieb. Heute hat sie diesen Gedanken in ihrem Roman „Wie meine Familie das Sprechen lernte“ verarbeitet. In dem Buch begibt sie sich auf die Suche nach ihrer Identität und erforscht, was es bedeutet, Alevitin zu sein. Sie spricht mit Familienmitgliedern, taucht tief in ihre Herkunft ein und stellt Fragen, die sie sich zuvor nie zu stellen wagte.
Leyla Bektaş wurde 1988 in Achim geboren und wuchs in Bremen auf. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater ein türkischer Alevit. Doch dieser Teil ihrer Identität spielte lange Zeit keine Rolle – weder für sie selbst noch für ihre Familie. Ihr Vater entschied bewusst, diesen Aspekt ihrer Herkunft im Hintergrund zu halten. Türkisch wurde zu Hause nicht gesprochen. „Ich fühlte mich defizitär, weil ich kein Türkisch spreche“, erinnert sich Leyla. „Deshalb wurde ich nicht als Teil meiner türkischen Familie wahrgenommen.“
Besuche bei Verwandten in Ankara ließen sie jedoch spüren, dass ihre Familie anders war. Während des Ramadans wurde heimlich gegessen, und nachts blieben die Lichter an, damit die Nachbarn dachten, man sei wach wie alle anderen. Diese kleinen, verborgenen Gesten der Anpassung deuteten auf eine Besonderheit hin, die sie damals noch nicht verstand. Erst später erfuhr sie von ihrem Vater, dass ihre Familie der religiösen Minderheit der Aleviten angehört – einer Gruppe, die in der Türkei häufig Diskriminierung und Unterdrückung erfuhr.
Auch der Religionsunterricht in der Schule brachte ihr keine Klarheit. Dort wurde über die Aleviten kaum gesprochen, was dazu führte, dass dieser Teil ihrer Identität für sie lange unverständlich und unergründet blieb. Die Auseinandersetzung mit ihren Wurzeln begann für Leyla erst Jahre später, als sie sich bewusst auf die Suche nach Antworten machte.
In Deutschland verlief Leylas Kindheit weitgehend unauffällig. Ihr äußerliches Erscheinungsbild ließ keinen direkten Rückschluss auf ihre Herkunft zu, doch ihr Name sorgte immer wieder für Verwirrung. „Ich habe gemerkt, dass die Menschen mich nicht einordnen konnten. Ich passte in keine Schublade.“
Diese Unbestimmtheit prägte sie, machte sie neugierig, aber auch unsicher. Sie lebte zwischen den Welten, ohne sich einer wirklich zugehörig zu fühlen.
Dem Schreiben widmen
Nach dem Abitur verließ Leyla ihre Heimatstadt Bremen und begann ein bewegtes Leben. Sie studierte Romanistik – Französisch und Spanisch – in Köln, lebte in verschiedenen Ländern und arbeitete als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache. Eine prägende Zeit verbrachte sie in Mexiko, wo sie sich tief in die spanische Literatur vertiefte und Autoren wie Roberto Bolaño für sich entdeckte.
Leyla hatte schon immer Tagebücher geschrieben, doch es dauerte, bis sie sich traute, ihre Texte jemandem zu zeigen. Ihr damaliger Freund, heute ihr Ehemann, ermutigte sie, ihr Talent ernst zu nehmen. Sie schrieb sich in ein Studium für Literarisches Schreiben in Leipzig ein. „Durch dieses Studium habe ich eine Hinwendung zu mir selbst gespürt, zu meiner eigenen Geschichte“, sagt sie. „Gleichzeitig habe ich mich bis dahin nicht als ‚anders‘ wahrgenommen.“
Das Buch: „Wie meine Familie das Sprechen lernten“
Im Jahr 2020 erhielt Leyla das Bremer Autorenstipendium, das ihr die Freiheit gab, sich intensiv mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. Sie begann, Familienmitglieder zu interviewen, ihre Geschichte zu erforschen und diese in einen Roman zu verwandeln. Dabei mischte sie autobiografische Elemente mit fiktionalen Passagen.
In ihrem Debütroman „Wie meine Eltern das Sprechen lernten“ erzählt sie die Geschichte von Alev, einer Journalistin in Köln, die herausfindet, dass ihre Familie der unterdrückten Minderheitsreligion der Aleviten angehört. Sie begibt sich auf eine Reise der Entdeckung und deckt dabei Familiengeheimnisse auf. Ihre Nachforschungen führen sie zu ihrem Vater, der als linker Student nach Deutschland kam, und zu anderen Verwandten, wie ihrem Onkel Cem, ein Textilunternehmer. Der Roman fängt im Jahr 2017 an und verarbeitet die politische Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016.
Und danach?
Heute ist Leyla Bektaş Mutter von zwei Kindern und hat bereits Pläne für ihr nächstes Buch. „Ich möchte über Mutterschaft schreiben“, sagt sie. Parallel dazu unterrichtet sie kreatives Schreiben in Workshops und widmet sich weiterhin der Literatur. Ihr Ziel? „So lange schreiben, wie es mir möglich ist.“
„Wie meine Familie das Sprechen lernten“ erschien am 2. Oktober 2024 bei Nagel und Kimche.