Sie betritt die Bühne erneut, in der Hand hält sie einen Koffer. Als sie den Koffer auf der Bühne abstellt und öffnet, entpuppt sich ein Harmonium. Sie fragt die Zuschauer, ob sie etwas für sie singen soll, dann kehrt Stille ein, bis diese von lang gehaltenen, durchdringenden Tönen durchbrochen wird, welche sie mit ihrer Stimme erzeugt, bevor eine Begleitung durch Harmonium und Trommeln einsetzt.
„Ich bin eine Frau. Ihr hört meine Stimme, ihr seht meinen Körper“, sagt sie am Ende ihrer Performance. Sie spricht auf Dari, während die Übersetzung parallel auf Deutsch und Englisch an die Wände projiziert wird. Sie spricht über die Sicht- und Unsichtbarkeit von Frauen und von wem sie bestimmt wird.
Das Stück Landsfrau, bei welchem Mariann Yar als einzige Spielerin auf der Bühne steht, bildet eine autofiktionale Erzählung, geschildert durch die deutsch-afghanische Schlüsselfigur Ariana, ab. Dieser ist der Zugang zu dem Heimatland ihrer Eltern verwehrt, seit sich am 26. August 2021 die Grenzen geschlossen haben und die Bundeswehr ihre Evakuierungsoperation beendet hat.
Sie zeichnet entlang der Performance ihre Erinnerungen und Verknüpfungen mit dem Land ihrer Eltern nach, welche sich aus den Bildern und Erzählungen speisen, die ihr geblieben sind. Am Ende stellt sie fest, dass dieses Land, von dem sie träumt und erzählt, nie wieder jenes Land aus den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern sein wird.
Die Inszenierung ist collagenhaft. Durch Licht und Musik wird der Zuschauer aus einer Szenerie in die nächste geworfen. Das Stück baut sich aus einer Zusammenstellung an Musik, Gesang, Tanz und gesprochener Performance zusammen, bei welcher häufiger die vierte Wand zum Publikum durchbrochen wird. Auch wenn ich keine aktive Rolle einnehmen musste, fühlte ich mich durch diese Taktik als Teil des Geschehens und auf einer persönlichen und dadurch emotionalen Ebene angesprochen. Dies ist mir eindrücklich in Erinnerung geblieben.
Wer ist Mariann Yar?
Mariann Yar ist Schauspielerin, Performerin und Sprecherin (als @mariannyar auf Instagram).
Sie absolvierte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste in Berlin, in jener Stadt, in der sie noch heute lebt und arbeitet. Sie ist Teil des Projektmanagements und des Leitungskollektivs des Ringtheaters Berlin, als Schauspielerin an einer Vielzahl von Produktionen beteiligt und auf den Bühnen Deutschlands unterwegs.
Sie ist die Tochter afghanischer Eltern und engagiert sich im Verein Stabiler Rücken e. V., bei welchem sie im Vorstand sitzt, für eine diverse und inklusive Film- und Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum.
Landsfrau wurde im Rahmen des fluctoplasma Festivals in Hamburg auf der Plattform Bühne des Ernst-Deutsch Theater aufgeführt.
Das Genre Autofiktion
Autofiktion ist eine Literaturkategorie, welche sich als Mischform der Autobiografie und Fiktion versteht. Niemand weiß, wie viel Wahrheitsgehalt in den Erzählungen von Ariana steckt und wie nah sich ihre fiktionale Person an Mariann bewegt. Menschliche Erinnerungen sind keine standhaften Gebilde. Sie sind leicht zu manipulieren und können auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass niemand eine objektive Realität erlebt, nur in Teilen einer allgemeinen Wahrheit entsprechen.
Mit der vorgeschalteten Aufschrift als Autofiktion, wird die Erzählung unverletzlich und bietet Ariana einen sicheren Raum, ihre Erinnerungen anzuschauen, sie in Teilen neu zu durchleben, zu hinterfragen und eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Diese setzen sich mit dem Gefühl von Verlust und Schuld sowie mit dem Bedürfnis nach Aufbruch und Tatendrang auseinander.
Im Raum war gerade durch die Anwesenheit von persönlich Betroffenen ein hohes Maß an Emotionalität zu verspüren und ich habe die ein oder andere Träne fließen sehen, als ich die Reihen der Zuschauer entlang schaute. Ariana und Mariann ist es gelungen, die Zuschauer auf eine Reise zu schicken, die viele in Erinnerung behalten werden.