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Kulturelle Hybridität – zwischen Entfremdung und Entfaltung

In ihrem Newsletter „migrantische psyche“ schreibt Zara über mentale Gesundheit, mit Fokus auf die Perspektive von Menschen mit Migrationsbiographie. Diesmal geht es um das Thema kulturelle Hybridität.

Kulturelle Hybridität – zwischen Entfremdung und Entfaltung
Fotograf*in: Mark Timberlake auf unsplash

Gestern Abend war ich mit zwei meiner engsten Vertrauten beim Apsilon-Konzert in Frankfurt. Was als entspannter Abend begann, mündete in ein tiefgründiges Gespräch, durchzogen von Frust, Abspaltung, Wiederfindung und Zugehörigkeit – inmitten von lautem Bass, mitsingenden Fans und zwei sehr talentierten Brüdern auf der Bühne. Was uns bewegt und beschäftigt hat, kennen wahrscheinlich viele von uns.

Die Identitätsentwicklung ist in der Regel für jeden Menschen ein komplexer und lebenslanger Prozess. Für Migrantinnen jedoch gestaltet sich diese Entwicklung oft besonders herausfordernd, da sie nicht nur die Kultur ihres Herkunftslandes, sondern auch die Kultur des Landes, in dem sie leben, in ihre Selbstdefinition integrieren müssen. Dies führt häufig zu einer sogenannten kulturellen Hybridität – einer Identität, die Elemente verschiedener kultureller Einflüsse kombiniert und somit einzigartig und facettenreich ist. Diese hybride Identität kann Migrantinnen helfen, ihre persönliche Geschichte und Erfahrungen positiv zu verarbeiten, stellt sie jedoch auch vor besondere Herausforderungen und Konflikte. Was ich meine, versteht wahrscheinlich der Großteil von euch, wenn nicht sogar ihr alle.

Wir standen also da, Mai (Vietnamesin), Can (Kurde) und ich (Afghanin), umgeben von mehrheitlich weißen Deutschen, die Apsilons gesellschaftskritischen, antirassistischen, von Schmerz und Trauer geprägten Texte mitgrölten. Wir empfanden vieles. Wir gönnen ihm den lauten Zuspruch, wir sind stolz. Wir sind gerührt, berührt, wir sind irritiert. „Versteht ihr wirklich, was er sagt?“, fragte ich laut in die Menge. „Versteht ihr überhaupt, was er meint?“

Wir waren überrascht darüber, wie viele weiße Menschen Apsilon zu erreichen scheint, wenn seine Texte hauptsächlich Einflüsse von Migration, strukturelle rassistische Gewalt, Sehnsucht und Brüderlichkeit thematisieren. Wütend darüber, wie sie uns als Künstler*innen schätzen, uns als Menschen jedoch zu oft schaden. Wie sie uns scheinbar als Sprachrohr empfinden können, jedoch zu selten versuchen, unseres zu sein.

Wir tauschten uns während des Konzerts immer wieder aus, teilten Gedanken und Tränen, sangen und tanzten und die Melancholie war an diesem Abend unser treuer Begleiter. „Glaubt ihr, hier sind auch Gringo- und Ramo-Kanaken?“ Wir einigten uns auf ein „nein“ und dies führte dazu, dass wir uns fragten, was wir denn für Kanaken seien und wie andere uns wahrnehmen; Ausländer, Block-Kanaken, Neo-Kanaken, Deutsche. Wer sind wir? Zu wem machen sie uns?

Der Weg zur kulturellen Hybridität

Kulturelle Hybridität entsteht, wenn Menschen die Werte, Normen und Rituale beider Kulturen integrieren und dabei eine neue, „hybride“ Identität entwickeln, die zu ihrer individuellen Lebenserfahrung passt. Dieser Prozess ist anspruchsvoll, bietet jedoch auch Chancen: Indem Migrant*innen eine eigene Mischung aus beiden Kulturen schaffen, können sie eine Identität entwickeln, die es ihnen erlaubt, sich in beiden Welten zu navigieren. Ein solcher Identitätsprozess ist oft durch die Notwendigkeit der Anpassung an wechselnde kulturelle Kontexte geprägt – sei es in sozialen Beziehungen, in Bildungseinrichtungen oder am Arbeitsplatz.

Es gibt jedoch große Herausforderungen bei der Entwicklung dieser kulturellen Hybridität. Der Druck, sich anzupassen, kann uns das Gefühl geben, die Herkunftskultur aufgeben zu müssen, um anerkannt zu werden. Wir sind mit Kämpfen konfrontiert, mit Priorisierung und Verlust. Die Furcht vor dem Verlust der eigenen Kultur kann zu einem Gefühl der Entfremdung und Isolation führen.

Gestern Abend kam zu dem Gefühl der Entfremdung auch Melancholie hinzu.

Psychologische Auswirkungen und Bewältigungsstrategien

Die Herausforderung, eine hybride Identität zu entwickeln, kann mit psychischen Belastungen wie Unsicherheit, Selbstzweifel und inneren Konflikten einhergehen. Studien zeigen, dass eine stabile hybride Identität oft mit einem höheren Selbstbewusstsein und besserer Anpassungsfähigkeit verbunden ist. Migrant*innen, die ihre kulturelle Hybridität akzeptieren und aktiv gestalten, entwickeln häufig eine hohe Resilienz und profitieren wohl von ihren interkulturellen Kompetenzen.

Familien und Gemeinschaften können diese Entwicklung positiv beeinflussen, indem sie Räume zur Verfügung stellen, in denen beide Kulturen wertgeschätzt werden. Schulen und Organisationen entwickeln (und sollten dies auch weiterhin tun) Programme zur Förderung interkultureller Kompetenz, um Migrant*innen zu unterstützen und kulturelle Hybridität als wertvolle Eigenschaft zu fördern. Psychologische Beratung, die sich auf interkulturelle Themen spezialisiert, kann ebenfalls eine wichtige Ressource sein, um mit Identitätskonflikten umzugehen und eine gesunde, stabile Identität aufzubauen. Unseren Bedürfnissen Raum zu bieten und selbstständig und möglichst reflektiert zu beleuchten, was wir als erstrebenswert empfinden, ermöglicht uns letztendlich, diejenigen zu sein, die wir sein möchten.

Was dieses Konzert an einem Dienstagabend in uns ausgelöst hat – und wir waren bereits auf unzähligen Konzerten – fühlte sich anders an als sonst. Trotz der Widerstände, die in uns ausgelöst wurden, fühlten wir uns aufgefangen. Kunst von unseren Leuten zu sehen, lesen, hören, ist anders und kann uns auf so vielen Ebenen empfangen, wenn wir ihr begegnen.

Falls du Apsilons Musik noch nicht kennt, empfehle ich sie dir von Herzen. Welche Künstler*innen bewegen dich denn besonders?

Liebste Grüße

Zara

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