Hallo, mein Name ist Omid Rezaee, freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur achten Ausgabe von „migrantisch gelesen“!
Als ich vor einigen Tagen durch Berlin-Mitte entlang der Reste der Berliner Mauer spazierte, kam mir erneut ein Gedanke, der mich unzählige Male beschäftigt hat: Hätte mir vor 15 Jahren jemand gesagt, dass ich eines Tages in unmittelbarer Nähe dieses historischen Bauwerks – das ich bis dahin nur aus Büchern und Filmen kannte – leben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. So banal es klingen mag, ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht, dass ich in meinem Alltag, und das an den meisten Tagen sogar mehrmals, die wohl bedeutendste Mauer des 20. Jahrhunderts überquere.
Morgen, am 9. November, jährt sich der Fall dieser Mauer zum 35. Mal. Ich habe viele Menschen, die ich in dieser Stadt kennengelernt und von denen ich angenommen habe, dass sie den Mauerfall miterlebt haben, erzählen lassen, wie sich diese Nacht für sie angefühlt hat. Jörg Magenaus Roman spielt ebenfalls in dieser Nacht und bietet faszinierende Einblicke in diese bewegte Zeit. Die Verbindung, die der Autor zwischen revolutionärem Aktivismus und Liebe herstellt, ist etwas, das viele, die sich an einem kollektiven Widerstand gegen ein ungerechtes System beteiligt haben, erlebt haben. Oft bleibt am Ende eines (meist gescheiterten) Widerstands nur die Liebe bestehen.
Tipp der Woche
In „Liebe und Revolution“ schildert Jörg Magenau eindrucksvoll das Lebensgefühl der 1980er Jahre in West-Berlin und die politischen Träume einer Generation. Im Zentrum steht Paul, ein junger Philosoph, der von der Sehnsucht nach Revolution getrieben wird und in Nicaragua als Brigadist sein Engagement sucht. Doch schnell erkennt er die Vergeblichkeit seiner Ideale. Magenaus Protagonist ist ein Beobachter, dessen Liebe zu Beate und Bewunderung für starke Frauen ihn prägen. Der Roman verwebt persönliche Entwicklungen mit historischen Umbrüchen wie dem Fall der Berliner Mauer und zeichnet ein vielschichtiges Porträt einer Ära, die zwischen Aufbruch und Desillusionierung schwankt.

untertan – Von braven und rebellischen Lemmingen
In „untertan – Von braven und rebellischen Lemmingen“ untersucht Solmaz Khorsand das universelle Phänomen des Mitläufertums mit schonungsloser Ehrlichkeit. Sie zeigt, wie alltägliche Anpassung oft eine Gratwanderung zwischen Selbstschutz und Bequemlichkeit ist, und legt dabei die Mechanismen offen, die Menschen in Gehorsam und Opportunismus treiben. Mit Beispielen aus Geschichte, Literatur und aktuellen Ereignissen sowie Interviews beleuchtet Khorsand, dass Rebellion nicht immer möglich oder einfach ist – Privilegien spielen eine entscheidende Rolle. Der Ansatz, Anpassung auch als potenziellen Akt der Rebellion zu sehen, macht das Buch zu einer differenzierten und motivierenden Lektüre, die uns alle zur Selbstreflexion einlädt.

Der November bringt kürzere Tage und längere Nächte mit sich – für viele eine graue und trostlose Zeit. Schreibt mir, was du tust, um diese grauen Tage zu überstehen, oder welche Bücher dich durch die langen Nächte begleiten. Vielleicht kann deine Lektüre auch anderen helfen, das Grau etwas leichter zu ertragen!
Wenn du andere Gedanken, Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge hast, die dir beim Lesen dieser Ausgabe in den Sinn gekommen sind oder die du gerne im Newsletter sehen würdest, schreib mir gerne eine E-Mail an omid@kohero-magazin.de
Bis bald und liebe Grüße,
Dein Omid
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