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James Baldwin wäre dieses Jahr 100 geworden

Im Newsletter „roots & reels“ schreibt Schayan über das Neueste aus Film und Fernsehen. Diesmal geht es um die Filmkritik des Schriftstellers James Baldwin, der in diesem Jahr hundert geworden wäre, sowie Dokumentarfilme über sein Leben und Werk.

James Baldwin wäre dieses Jahr 100 geworden
Fotograf*in: Europeana auf unsplash

Eigentlich braucht es keinen bestimmten Anlass, sich mit dem Schaffen von James Baldwin auseinanderzusetzen. Doch 2024 zeichnet das Jahr, in dem der Schriftsteller 100 Jahre alt geworden wäre. Eine passende Erinnerung also, sich seinem Œuvre anzunähern. Baldwins Worte und Gedanken sind von so großer Bedeutung und haben heute, knapp 37 Jahre nach seinem Tod an Krebs, eine genauso hohe Relevanz für unsere Welt wie damals, dass es immer wieder eine gute Idee ist, Zeit mit all dem Output zu verbringen, zu verschiedenen Themen wie Rassismus, Sexualität, Kolonialismus und Macht.

Ich schreibe diese Einleitung am US-Wahlabend und weiß gerade nicht, wie es ausgehen wird (ob die schlechte Option gewinnt oder die noch schlechtere Option, Anm. d. Red: Jaaaa, also Trump hat gewonnen …), frage mich aber auch die ganze Zeit, was James Baldwin zu sagen hätte, was er schreiben würde über das Amerika der letzten 30 Jahre, was er tun würde …

Ich bin als „roots & reels“-Autor vor allem interessiert an Baldwins Verbindungen zu Film (und Fernsehen). Und da fällt mir gleich sein Essay „The Devil Finds Work“ ein, eine bemerkenswerte Filmkritik und Analyse über das Kino und die Filme, die er in seinem Leben gesehen hat. Baldwin schreibt natürlich aus einem rassismuskritischen Blickwinkel als Schwarzer Mann in Amerika und ich finde, dass dieses Werk mindestens so wichtig ist wie seine späteren Texte und Romane.

Was ich darüber hinaus noch spannend finde, ist, wie „viral“ Baldwin selbst ist und wie Clips von ihm aus Talkshows, Interviews und Dokumentationen auf Social Media verbreitet werden. Es sind immer wieder dieselben Momente aus seinen Fernsehauftritten, die fest im Kanon des digitalen Antirassismus verankert sind und regelmäßig gepostet werden. Das beweist leider auch einfach, dass diese Kämpfe alt und anstrengend sind, damals wie heute.

Baldwin ist schon immer ein faszinierendes Subjekt für Dokumentarfilmemacher gewesen. Nicht nur in Europa oder Amerika. Da er eine Zeitlang in Istanbul gelebt und gearbeitet hat, wurde er auch dort filmisch begleitet, von Leuten, die sein Wesen einfangen wollten. So ist zum Beispiel die Kurzdokumentation „From Another Place“ von Sedat Pakay entstanden, die einige wenige Augenblicke seines Alltags am Bosporus einfangen. Der Film steht im Dialog oder vielleicht im Gegensatz zu „Meeting the Man“ von Terence Dixon. Hier sieht man einen weniger entspannten James Baldwin (vermutlich weil er in Europa, in Paris ist). Eine elektrisierende Momentaufnahme dieser durch und durch intellektuellen Persönlichkeit, der wenige das Wasser reichen können.

Eine eingehende und gründliche Studie ist „The Price of the Ticket“ von Karen Thorsen. Hier wird in klassischer Manier das gesamte Leben dokumentiert, von der Kindheit und Jugend über die Arbeit bis zum Tod, mit O-Tönen von Familienmitgliedern, Zeitgenossen, Kollegen und Freunden. Wenn es einen Film gibt, den man sehen sollte, um Baldwin nicht nur als Künstler, sondern vor allem auch als Mensch zu verstehen, dann ist das „The Price of the Ticket“.

Und last but not least gibt es Raoul Pecks „I Am Not your Negro“, eine nüchterne Bestandsaufnahme einer kranken, rassistischen Gesellschaft, die die Verbindungslinien der Diskriminierung von Schwarzen in den USA aufzeigt anhand von Baldwins kurzem, unvollendetem Manuskript „Remember This House“. Dieser Film ist zwar aus 2016, hat aber im Zuge der Black Lives Matter Proteste vor ein paar Jahren an Bedeutung gewonnen und ist nach wie vor zeitgemäß, was Polizeigewalt angeht.

Und das ist immer noch nicht alles. Es lohnt sich, wenn man mal nichts Besseres zu tun hat, sich in einem YouTube-Rabbithole zu verlieren und ältere Zusammenschnitte von Baldwin anzuschauen. Herzlichst empfehlen kann ich noch den mit einem Oscar prämierten „If Beale Street Could Talk“ von Barry Jenkins (verfügbar auf Plattformen wie Joyn oder Mubi). Basierend auf Baldwins fünftem Buch (und dem einzigen mit einer weiblichen Erzählerin) ist es anfangs eine zarte Liebesgeschichte und dann — einmal mehr — ein Blick auf die rassistischen, korrupten Machtgefälle Amerikas. Ich kann nur raten, aber ich glaube, Baldwin hätte dieser Film gefallen.

Danke fürs Lesen und viel Spaß beim Schauen

Dein Schayan

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