Die Berliner Filmemacherin Aslı Özarslan hat an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und mit ihrem Dokumentarfilm „Dil Leyla“ auf Festivals Bekanntheit erlangt. Nun hat sie ihr Spielfilmdebüt gedreht und einen geliebten Roman, nämlich „Ellbogen“ der Autorin Fatma Aydemir, für die große Leinwand adaptiert. Die Geschichte handelt von Hazal, einer jungen Frau aus Berlin, die aus einer deutsch-türkischen Arbeiterfamilie kommt und auf Vorurteile auf dem Jobmarkt stößt. Nach einem fatalen Unfall muss sie nach Istanbul flüchten und untertauchen. Ich habe mit Aslı Özarslan über ihren Film, über die Figur Hazal und vieles mehr gesprochen.
Aslı, was war für dich ausschlaggebend, den Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir als dein Spielfilmdebüt zu wählen?
Für mich war mitunter das Ende des Romans sehr wesentlich. Die Frage, wie viel gesellschaftliche Verantwortung auch „wir“ tragen, hat mich stark zum Nachdenken gebracht. Und was in der Gesellschaft schiefläuft, wenn man eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen nicht als Individuen wahrnimmt, sondern nur als Projektionsfläche sieht. Wenn man selbst eigentlich gar kein Problem mit sich selbst hat, aber von außen immer eine Problematik auf deine Identität projiziert wird, das hat mich sehr berührt. Wer kann Hazal sein? Wer ist sie und wie wird sie gesehen? Als junge Frau ist sie auch nicht frei von dieser Auseinandersetzung, sie ist selbst auf der Suche nach Antworten. Dieses Spannungsfeld fand ich sehr interessant.
Welche Gespräche hättest du mit der Hauptdarstellerin Melia Kara, die in „Ellbogen“ ihr Filmdebüt gibt, über die Figur von Hazal?
Die Figur Hazal ist wahnsinnig verletzlich. Und gerade für eine Laiendarstellerin ist es schwierig, sich da „nackt“ zu machen und zu zeigen, wie verletzlich sie ist. Daran haben wir stark gearbeitet, wir haben viele Workshops gemacht. Diese Verletzlichkeit mussten wir durchgehend zeigen, damit man an der Figur dranbleibt und nicht nach der Hälfte aussteigt.
Wir haben auch viel über die Figur gesprochen. Warum handelt Hazal so, wie sie handelt? Für mich ist ein ausschlaggebender Punkt zu sagen, pass auf, Hazal ist wahnsinnig klug. Aber sie spürt, dass diese Gesellschaft ihr nicht vertraut. Sie kann dieses Gefühl nicht in Worte fassen, aber wie kann sie dann der Gesellschaft vertrauen? Das ist der Kernpunkt der Figur. Sie weiß zwar nicht, was sie will, aber sie weiß, was sie nicht will. Sie kann ein großes Nein in die Welt rausschreien.
Dieses Nein, dieses Privileg, das haben sehr viele junge Menschen vielleicht, aber Hazal kann sich das eigentlich nicht leisten. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, sie hat nicht das Privileg, bockig zu sein. Man erlaubt ihr das gar nicht. Weil man gleich etwas auf sie projiziert. Aber das Tolle an dieser Figur ist, dass sie sich das rausnimmt und weder Opfer noch Täterin ist. Sie passt in keine Schublade. Und wir haben sie nicht weichgespült, nur damit sie akzeptiert wird.
In einer Szene sieht Hazal ein Foto von sich, wo sie sich unbeobachtet fühlt und sagt, dass sie sich gar nicht wiedererkennt. Wie war das für Melia Kara und die weiteren Schauspielerinnen, dass du sie für die große Leinwand inszeniert hast und war es dir wichtig für dich als Regisseurin, dass du sie an die Hand nimmst, um sie durch den Prozess nach Ende der Dreharbeiten zu führen?
Zu der ersten Frage müsstest du Melia und die anderen fragen, wie es für sie war, sich zum ersten Mal zu sehen. Zu der zweiten Frage, da hatte ich natürlich am Anfang schon gedacht, dass ich sie alle beschützen muss. Vor allem, wenn Journalist*innen Fragen gestellt haben, die vielleicht gar nichts mit dem Film zu tun haben. Für Melia ist die Branche und alles ja ganz neu. Aber ich war so stolz, dass sie da so selbstbewusst war. Nicht, dass ich ihr das nicht zugetraut hätte, aber ich konnte wirklich einen Schritt zurück machen.
Mit welchen Herausforderungen hattest du bei deinem Spielfilmdebüt selbst zu kämpfen?
Für alle Debütant*innen, die aus der Filmhochschule kommen ist es ähnlich, ich würde nicht sagen, dass ich es besonders schwer hatte. Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, aber in der Branche gibt es eine bestimmte Begrenzung an Filmen, die man machen kann und eine bestimmte Begrenzung an Debütfilmen. Das ist hammerhart, aber das gilt für uns alle. Für mich kommt noch dazu, dass ich eine Frau bin und einen Migrationsbezug habe. „Ellbogen“ ist eine sehr spezifische Geschichte, weil das Ende so polarisiert.
Wir konnten den Film verwirklichen dank Leuten, die wirklich an diesen Film geglaubt haben. Die eben das Potenzial dieses Films gesehen haben. Sie haben gesehen, dass der Film für eine gewisse Repräsentation steht. Auch bei den Förderentscheidungen war das ausschlaggebend. Aber die Frage mit der Herausforderung greift noch viel früher. Wer darf eigentlich Filme machen? Das hat etwas mit Klasse zu tun. Es spielt eine Rolle, ob man aus der Arbeiterklasse oder aus einem bürgerlichen Haushalt stammt. Können dich deine Eltern unterstützen oder nicht? Ich würde mir wünschen, dass Leute, die nicht das Privileg haben, Filme zu machen, die Möglichkeiten dafür bekommen.
Ich habe in einer Kritik zum Film gelesen, dass „Ellbogen“ sowas wie eine Gen-Z Version von „Gegen die Wand“ ist, den internationalen Durchbruch des Regisseurs Fatih Akin. Wie würdest du das kommentieren?
„Gegen die Wand“ ist ein unglaublich prägender Film für unsere ganze Generation gewesen, aber ich hatte den Film an sich überhaupt nicht im Kopf, weil ich die Figuren nicht zusammenbringen konnte. Emotional vielleicht, aber in den Handlungen nicht. In „Gegen die Wand“ geht es auch um eine jüngere Frau, aber Sibel sitzt zwischen den Kulturen, mit ihrer Familie zum Beispiel. In meinem Film geht es gar nicht darum.
Und das finde ich manchmal so interessant, wenn in manchen Kritiken steht, dass Hazal auch eine Figur zwischen zwei Kulturen ist. Ich verstehe das nicht. Ich glaube, das ist ein Automatismus von manchen Journalist*innen in Deutschland, dass sie eine deutsch-türkische Figur automatisch zwischen zwei Kulturen lesen. Aber dieses Thema behandle ich gar nicht, es geht nicht darum, dass Hazal gefangen wäre oder irgendwie unter kulturellem Druck stehen würde durch ihre Eltern.
Hazal ist eine junge 17-jährige Frau, die kein Abi hat, die einen nicht-deutschen Namen trägt, aber sich voll und ganz als Berlinerin sieht, eine junge Frau, die mitten aus unserer Gesellschaft stammt, aber künstlich von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wird. Das ist für mich nicht die Geschichte, wo man denkt, es geht um deutsch-türkische Kultur, die zu Problemen führt. Es geht hier um gesellschaftspolitische Fragen, was bedeutet Chancengleichheit in unserer Gesellschaft? Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Es geht um eine junge Frau, die eine Chance sucht. Nicht aus kultureller Hinsicht, sondern aus der Perspektive eines Arbeiterkindes. Ihre Eltern kommen aus der Arbeiterklasse und wollen, dass sie arbeitet.
Wäre es vielleicht fairer zu sagen, dass es keine Geschichte von zwei Kulturen, aber dafür zwei Städten ist? Berlin und Istanbul sind prominent in Szene gesetzt.
Mir war es eher wichtig, dass die Städte ineinanderfließen. Für mich hätte das auch in Deutschland und Spanien spielen können. Ich zeige ja keine Totalen. Man sieht immer nur Hazal. Natürlich entdeckt sie auch etwas über ihre Identität in Istanbul. Im Roman ist das sehr facettenreich erzählt und dort macht das auch total viel Sinn. Aber ich wollte das eben etwas universeller erzählen. Deswegen habe ich das, was der Roman durch Details erreicht hat, hier eher reduziert.
Hazal geht zu Mehmet, weil er der einzige ist, den sie außerhalb von Berlin, außerhalb von Deutschland kennt. Aber wäre er in Portugal, dann würde sie wahrscheinlich nach Portugal fahren. Nochmal zu der vorherigen Frage mit „Gegen die Wand“, wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es vielleicht die Dynamik, die beide Filme verbindet. „Gegen die Wand“ ist sehr rough und hat eine bestimmte Dynamik, und es kann sein, dass die Leute diesen Drive auch in „Ellbogen“ spüren.
Ich habe mich, als ich diesen Film gemacht habe, komplett an Hazal und ihren Drive orientiert. Und diesen Drive habe ich in den Film übertragen. Das war das Wichtigste für mich. Ich wollte diesem Charakter treu bleiben. Diesen Charakter nicht verraten. Und dadurch ist dieser Film entstanden.
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