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5 Min. Lesezeit Kolumne

Heimatverlust als Tabuthema?

Wie fühlt sich der Verlust der Heimat an? Und warum wird oft nicht darüber gesprochen? Ein Blick auf die Identität der Autorin als Kirgisin und als Deutsche, Einsamkeit und Regenwetter.

Heimatverlust als Tabuthema?

Warum ist Heimatverlust in der deutschen Gesellschaft ein Tabuthema?

Diese Frage hat mich in letzter Zeit beunruhigt. Es wird in Medien über Depression, Burnout und andere psychische Krankheiten gesprochen. Als ich im ambulanten psychiatrischen Dienst gearbeitet habe, habe ich viele Migrant*innen auf ihrem Lebensweg begleitet. Wenn ich nachdenke, hatten viele von denen ein Trauma in erwachsenem Alter: den Verlust der Heimat.

Ich wünsche mir, dass Ärztinnen diese Art von Trauma ernst nehmen. Dieses Trauma lässt Menschen in ihrer neuen Heimat nicht glücklich sein, bevor sie diese Schmerzen nicht verarbeiten. Sie können materiell erfolgreich sein, aber seelisch nicht. Neulich hatte eine Freundin aus meinem Land ihren Geburtstag gefeiert. Da waren gemischte Gruppen von Deutschen, Kirgisinnen und anderen Nationalitäten. Alle haben, wie es sonst auf Partys üblich ist, über Arbeit, Ausbildungsplatz, Reise und kleine Alltagsproblemchen gesprochen.

„Mein 2-jähriger Sohn isst zu Hause keinen Brei, die arme Mutter kann nicht nachts gut schlafen, er trinkt viel an der Brust. Aber in der Kita ernährt er sich gut!“

„Ah ja, diese Sauna soll wirklich gut sein?“

„Ich muss mich endlich mal bei der Fitness anmelden, sonst bekomme ich Winterspeck!“

So sprechen blutende Seelen über ihre Scheinheimat, über ihr scheinglückliches Leben. Ich war zu ernst, um an solchen Gesprächen teilzunehmen. Ich denke, warum konnten wir nicht über persönliche Themen sprechen, die uns wirklich beschäftigen?

Was beschäftigt denn Migrant*innen nach 8 Stunden Arbeit und am Wochenende? Welche Gedanken haben sie so?

Der Stein in der Seele

Ich vermute, dass viele trotz ihrer „beschäftigten“ Leben zwischendurch doch an ihre Heimat denken. Vielleicht kommen kurze Erinnerungen an bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit, oder Bilder von alten Häusern und Straßen. Als ich auch, wie diese Menschen auf der Party, eine sehr gut integrierte Migrantin war, habe ich in meiner Freizeit viel unternommen, es war egal was, Hauptsache, möglichst abgelenkt sein.

Irgendwann haben mich Schmerzen vom Heimatverlust so stark erwischt, dass ich mich nicht mehr ablenken konnte. Die Auseinandersetzung war nicht angenehm, es hat mehrere Jahre in Anspruch genommen, aber es hat sich gelohnt. Ich habe immer noch Schmerzen vom Verlust meiner Heimat. Es fühlt sich manchmal wie ein Stein in meiner Seele an, der mit seiner Anwesenheit meine Freude am Leben verhindert. Dessen Anwesenheit dauert allerdings nicht mehr so lang, sodass ich nicht vor mir fliehen muss.

In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit Musik, Schreiben und ich gehe gerne spazieren und bin mit Menschen zusammen, die mich verstehen. Ja, es klingt doch so, als ob ich nicht mehr vor Schmerzen, bzw. vor mir selbst nicht mehr fliehen muss. Was für ein Segen. Das wünsche ich jedem, der seine Heimat verloren hat. Erfüllende Beschäftigungen tun mir richtig gut und ich tue sie bewusst, um nicht meine Schmerzen zu vermeiden, sondern sie mit Leichtigkeit ertragen zu können.

Meine Schmerzen sind auch wie zwei große Augen in mir, die in bestimmten Phasen die deutsche Welt nicht sehen und ertragen wollen. Es fühlt sich alles auf einmal fremd an. Obwohl ich weiß, ich lebe hier seit 17 Jahren. Das tut richtig weh und es ist Widerstand zum Leben selbst.

In so einem Zustand möchte ich nichts machen. Ich will in Widerstand bleiben und meine Tür vor der ganzen deutschen Welt in mir und außerhalb von mir zu machen. Und gleichzeitig verurteile ich mich selbst für diese Abgrenzung. Ich denke, warum soll ich es machen? Habe ich das Recht, das zu machen? Es ist so, als ob diese Augen mir antworten: „Bitte stelle keine Fragen. Akzeptiere diese Schmerzen.“

Es ist eine Tragödie, die ganze Heimat und damit einen Teil von sich selbst zu verlieren! Erfüllende Dinge, die ich die meiste Zeit tue, Dinge, die mir guttun, helfen mir in solche Augenblicken tatsächlich nichts zu machen und einfach traurig zu sein.

Warum ist es ein Tabuthema, über Heimatverlust zu sprechen? Warum begraben Migrant*innen ihre wertvolle Vergangenheit, ihre kulturelle Identität? Muss diese Identität jahrelang bluten?

Ich habe mittlerweile gute Augen für blutende Seelen. Blutende Seelen erkenne ich auch unter Deutschen, die ihre deutsche Identität nicht ausleben dürfen. Wurde es nicht irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg verboten, stolz zu sein, dass man Deutscher ist? Das hat zum Verlust der deutschen Identität geführt. Welcher Deutsche kann laut auf der Straße schreien, stolz deutsch zu sein? Man würde schief angeguckt werden und als Nazi gelten.

Säulen, die in meine Augen als Identität dienen, sind: Fußball, Bürokratie, Wirtschaft, Qualität der exportierten Waren aus Deutschland und Arbeit. Ich denke, dass auf Dauer diese Säulen nicht mehr als Identität dienen können, weil es Menschen an einer wahren Identität fehlt. Deutsche, die das ausdrücken, laufen Gefahr, als nationalsozialistisch zu gelten. Deshalb können Deutsche sich nur durch Leistung zeigen.

Unendliche Schuldgefühle aus der Vergangenheit quälen sie immer noch und treibt sie an, Marionetten des kapitalistischen Systems zu sein, statt sich selbst zu lieben und akzeptieren. Aus diesem Grund fehlt in dieser Gesellschaft Zugehörigkeit, ohne Zugehörigkeitsgefühl werden immer mehr Menschen an der Pandemie der Einsamkeit erkranken.

Die Pandemie der Einsamkeit erkenne ich in den leeren Augen vieler Menschen, die ich auf der Straße sehe; ohne eine Studie kann ich persönlich behaupten, dass Deutschland an der Pandemie der Einsamkeit erkrankt ist, weil Menschen keinen Geist in Gesellschaft, keine Identität haben. Und Wolken mit Regen haben damit nichts zu tun.

Das ist die Schattenseite, aber es gibt für mich auch andere, helle Seiten in Deutschland, der deutschen Seele, die mich seit 17 Jahren in Deutschland trägt, und ich bereue nicht, dass ich genau hier ausgewandert bin und hier lebe. Um eine Deutsche zu sein, muss ich nicht hier geboren sein. Ich fühle mich schon wie eine Deutsche. Eigenschaften der Deutschen haben mich beeinflusst und meine Seele hat sich mit deren Mentalität zusammengewachsen.

Was macht mich als Deutsche aus?

Ich habe in Deutschland nach einem langen Kampf mit mir selbst gelernt, NEIN sagen zu können. Wir kämpfen immer gegen uns selbst, gegen unsere Träume und Wünsche, wenn wir uns nicht genug akzeptieren und lieben. Wir tun uns etwas Gutes und gleich wollen wir uns wieder schaden. Ich wollte mein Bedürfnis, eine Kirgisin zu sein, nicht akzeptieren, ich habe es verdrängt, um wie alle andere zu sein. Nachdem ich jedoch geschafft habe, zu meiner Vergangenheit und Herkunft zu stehen, habe ich daraus viel Kraft und natürliche Lebensfreude gewonnen! Was für ein Segen für mich. Das wünsche ich von ganzem Herzen Deutschen und Migrant*innen.

Wenn ich ab morgen wieder in Kirgisistan oder woanders leben müsste, würde ich sicherlich Sehnsucht nach meiner deutschen Identität haben, weil ich diese Dinge nicht mehr in meinem Leben hätte: regionale Ernte im Herbst wie Pflaumen, Äpfel, Kartoffeln und Kohl, die brav und frisch auf einer Theke in einem Wochenmarkt liegen. Ältere Menschen mit ihren weisen und nüchternen Augen. Als ich in anderen Städten mit dem Auto oder in der Bahn unterwegs war, liebte ich es, weite Felder voller Raps und Riesenwindmühlen zu beobachten. Wunderschöne Altbauten aus den letzten Jahrhunderten, und Kirchen in Hamburg, Riesenbibliotheken voll mit Wissen, Konzertsäle, Theater und Musik.

Das Wetter-Phänomen hat hier im Leben von vielen Menschen einen wichtigen Platz hat. Übers Wetter zu sprechen und daran zu denken, jeden Tag sich damit beschäftigen, eigene gute und schlechte Laune auf das Wetter projizieren, die gewisse Kunst, sich Wetter gerecht anzuziehen. Ich habe vor vielen Jahren Gummistiefel gekauft und ich habe sie 2- oder 3-mal getragen, und ich besitze keine Regenjacke, weil ich mit meinem Regenschirm rechne. Ja, gewisse Frische, Wind und Regen sind für mich irgendwie doch sehr vertraut geworden.

All das ist für mich ein fester und lebendiger Geist der deutschen Identität, der von meiner Seele untrennbar bleibt.

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