Alles beginnt mit einem Performance-Workshop am Hamburger Stadtrand. Dort, in einer sogenannten Erstversorgungseinrichtung für minderjährige, unbegleitete Geflüchtete, stehen im Jahre 1999 Ella Huck und Dorothea Reinicke vor dreißig jungen Menschen, um mit ihnen einen Theaterworkshop durchzuführen. Aus drei Monaten ist ein Vierteljahrhundert geworden.
"Wir hatten total Feuer gefangen"
Der Name HAJUSOM erinnert an die ersten drei Jugendlichen, die mit HAJUSOM und vielen anderen Geflüchteten auf der Bühne standen oder in der ersten Gruppe aktiv waren: HA für Hatice aus Kurdistan, JUS für Jusef aus Afghanistan und OM für Omid aus dem Iran.
„Die Jugendlichen wollten, dass die Arbeit weitergeht und auch wir hatten total Feuer gefangen – die gemeinsame Arbeit machte Spaß und hat auch unseren Wunsch, uns als Performancekünstlerinnen politisch und sozial zu engagieren, voll entsprochen“, erklärt Ella Huck. Ella Huck ist Mitbegründerin von HAJUSOM und bringt als gelernte Tischlerin und Schauspielerin bei Jacques Lecoq an der Ecole internationale de Thèâtre in Paris den handwerklichen Griff für die Kunst und Performance.
Ella Huck und ihrer Kollegin Dorothea Reinicke war damals klar: Sie wollen mit den jungen Erwachsenen Kunst schaffen. Gemeinsam mit den Jugendlichen stellen sie einen ersten Antrag auf Kulturförderung bei der Stadt Hamburg. Das Ziel: Eine professionelle Produktion ermöglichen. Die erste Premiere fand in einer kleinen Konzerthalle in St. Pauli statt, einem ehemaligen Schlachthof.
„So etwas gab es zu dieser Zeit noch nicht und viele Zuschauer*innen waren glücklich, sich durch das Geschehene repräsentiert und gesehen zu fühlen“, erzählt Ella Huck. Für die Jugendlichen, die ihre Performance selbst kreiert, Texte geschrieben und ihre Tanzbewegungen erfunden hatten, war das ein Moment voller Stolz und Freude.
"Kunst kann Schutzräume schaffen"
Orte wie HAJUSOM braucht es immer mehr. Gerade geflüchtete Menschen sind oftmals vulnerabler. Menschen, die mit der Geschwindigkeit der Gesellschaft nicht mitkommen, brauchen geschützte Räume, um sich entfalten zu können.
„Kunst kann Schutzräume schaffen. Räume, um zu sich emanzipieren und Selbstvertrauen zu entwickeln. Um sich wieder sicherer zu fühlen. Um selbst andere zu unterstützen und ein selbstbewusster Teil der Gesellschaft zu werden. Auch geflüchtete Menschen haben ein Mitspracherecht und dürfen Gesellschaft mitgestalten und verändern“, pointiert Ella Huck. „HAJUSOM ist eine Welt, in der Menschen, die etwas verloren haben, es wiederfinden können.“
Denn HAJUSOM wirkt wie der Entwurf einer selbstgewählten Familie, Menschen aus der ganzen Welt, die in Deutschland als Minderheit gelten. Dabei wirft das Familienkonstrukt alle zuvor geltenden Regeln über Bord und schafft Störung und Verzerrung in bekannten Konstrukten. Das entspricht auch den Produktionen von HAJUSOM, denn selten gibt es eine durchgängige Story. Viel eher folgt die Dramaturgie einer Aneinanderreihung von Geschichten und Schicksalen als ein bewusst konstruierter Fantasieraum voller Lügen und Wahrheiten.

„Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen aller Menschen“
Zu Gründungszeiten bestand HAJUSOM vor allem aus Kriegsgeflüchteten und ehemaligen Kindersoldat*innen. Die Jugendlichen sind ohne Eltern nach Hamburg gekommen und mussten um ihren Aufenthalt kämpfen. „Oft war während einer Produktion nicht das gemeinsame Kunstschaffen im Fokus, sondern die Organisation des Alltags“, verrät Ella Huck.
Sie führt aus: „Durch die Performance-Theater versuchen wir einen künstlerischen Ausdruck für unsere Anliegen zu finden, auch durch neue experimentelle Wege. Um die Ideen der anderen zu verstehen, braucht es Zeit und Gespräche“. Vertrauen ist die Basis. „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen und -realitäten aller Menschen.“
Mit viel Herz und einem analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Zustände, leistet HAJUSOM einen Beitrag zu aktuellen Diskursen, in denen es um die Positionierung von Theater und Kunst in der Gesellschaft geht. „Wir versuchen in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs von Migrationspolitik eine wichtige Perspektive einzubringen, nämlich von den Menschen selbst, über die so viel gesprochen wird, aber viel zu selten mit ihnen“, betont Ella Huck.
Dafür hat sich HAJUSOM immer wieder mit anderen transnationalen und lokalen Künstler*innen verbunden. HAJUSOM lebt vom Austausch, gegenseitiger Bereicherung und davon, den Horizont immer weiter zu öffnen.
"Es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“
Dabei stellt HAJUSOM den Performer*innen zeitgenössische Kunstformen und Materialien zur Verfügung, aus denen sie autonom etwas bauen können. Das Ziel ist, eine Performance-Produktion zu schaffen, die öffentliche Räume neu gestaltet und Platz im Diskurs einnimmt. HAJUSOM ist ein Ensemble, das eine eigene künstlerische Position in den Kontext von Performance-Kunst einbringt. Mittlerweile sind mehr als 25 Produktionen mit dem Koproduktionspartner Kampnagel entstanden.
„Bisher war das wichtigste Ziel für uns als künstlerisches Team des Ensembles, für jede einzelne Person, die zu HAJUSOM kommt, Zeit und Raum zu haben. Die Brücke war immer die künstlerische Arbeit, aber es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“, sagt Ella Huck. Die politische Arbeit für Geflüchtete und bei Bedarf juristischer Beistand sind für HAJUSOM bis heute allgegenwärtig und prägen die Arbeit weiterhin.

„Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden"
Heute ist HAJUSOM ein anerkannter Ort für transnationale Performance-Kunst. Mehr als hundert Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte haben diesen Ort geformt. Nach rund 25 Jahren hat sich auch intern bei HAJUSOM einiges getan.
„Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden. Ehemalige Performer*innen haben heute ihre Familien und geben das Gefühl von HAJUSOM weiter. Viele ehemalige Mitglieder, die wir beispielsweise als 14-Jährige kennengelernt haben, besuchen uns heute in den Proben und bringen Geflüchtete mit, die ihre Geschichte erzählen möchten, unsicher sind oder irgendeine Form des Ballast mit sich tragen“, erzählt Ella Huck. Dadurch entsteht ein Kosmos mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen und sich auf Basis dessen auf einer ganz besonderen Ebene treffen.
Für HAJUSOM wünscht sich Ella Huck vor allem eines: Dass die nächste Generation den Geist von HAJUSOM erhält und weiter in die Welt trägt. Ihr ist bewusst, dass sie als weiße cis-Frau jahrelang eine durchaus machtvolle Position innehatte. Doch manchmal braucht es genau das: Verbündete, die die Steine aus dem Weg räumen, damit in Zukunft neue Generationen die Plätze einnehmen können und die Chance bekommen, alt bewährte Strukturen aufzubrechen.

- HAJUSOM steht für HAtice, JUSef und Omid
- Ella Huck hält die Auszeichnung THE POWER OF THE ARTS 2019 in den Händen. Die Jury urteilt: „HAJUSOM wagt den Schritt in die Zukunft, bringt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen neu zusammen, macht dabei nicht Diskriminierung sichtbar, sondern hält vor allem der Gesamtgesellschaft den Spiegel vor.“
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