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Haben internationale Gemeinschaften versagt?

In dieser Ausgabe von „syrien update“ geht es um das Eingreifen der internationalen Gemeinschaft in Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes. Kommt es zu spät?

Haben internationale Gemeinschaften versagt?
Fotograf*in: Xabi Oregi auf pexels.com

Alle Länder, selbst arabische Staaten, haben ihre eigenen Bedingungen, um eine Beziehung zur neuen Regierung in Syrien aufzubauen, die HTS (Hay'at Tahrir ash-Sham) anzuerkennen oder die Sanktionen aufzuheben. Dabei heißt es stets, ein demokratisches System müsse geschaffen und Minderheiten müssten geschützt werden. Das klingt zwar schön und gut, und wir begrüßen es grundsätzlich, aber auf der anderen Seite sind es oft dieselben Länder, die selbst kein demokratisches System haben oder ihre eigenen Minderheiten nicht schützen.

Gleichzeitig fragt sich eine Vielzahl von Syrer*innen: Wo waren diese Länder bisher? Wo waren die UN, die EU und andere arabische Länder? Wie konnten sie zulassen, dass Assad in seinem Krieg gegen die eigene Bevölkerung mehr als 500.000 Menschen tötete, über 100.000 Menschen verhaften ließ und niemand weiß, ob sie noch leben oder längst umgebracht wurden – und wenn sie getötet wurden, wo ihre Leichen sind? Obwohl Assad gestürzt ist und alle Gefängnisse eigentlich leer sein sollten, gibt es immer noch Tausende Verschwundene. Niemand weiß, wo sie sich befinden.

Aktuell kursiert in den sozialen Netzwerken ein eindrückliches Video: Eine syrische Frau attackierte das Fahrzeug eines UN-Teams, das das Gefängnis von Saidnaya bei Damaskus besuchte, mit ihrem Schuh. Bei der Ankunft der UN-Delegation am Eingang dieses berüchtigten Gefängnisses stürzte sich die Frau auf eines der Autos. Sie rief: „Wozu kommt ihr jetzt noch? Wir wollen euch nicht mehr!“, und warf ihren Schuh auf den Wagen, in dem sich der UN-Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, befand. Laut der Nachrichtenagentur AFP hat die Frau einen Bruder und zwei Cousins, die vermisst werden. Sie waren Insassen im Saidnaya-Gefängnis.

Warum hat die internationale Gemeinschaft die Syrerinnen nicht geschützt? Warum hat sie zugelassen, dass die Hisbollah, iranische und andere schiitische Milizen sowie Russland nach Syrien kamen, um dort Syrerinnen zu töten? Niemand kann diese Fragen wirklich beantworten. Es scheint, als sei alles „zu kompliziert“. Niemand kann dieser Frau und anderen syrischen Familien die verlorene Zeit zurückgeben oder ihre Kinder aus Assads Gefängnissen befreien. Die internationale Gemeinschaft hat in Syrien – wie auch in anderen Ländern – versagt.

Danach, als die Syrer*innen es aus eigener Kraft geschafft hatten, sich gegen das diktatorische Regime zu erheben – ein Regime, das einen großen Teil der Bevölkerung unterdrückte – rufen plötzlich alle Länder an und sagen: „Ihr müsst dies und das tun.“ Doch das Problem liegt nicht nur bei der Frage des Minderheitenschutzes.

Ein großer Teil der syrischen Geschichte, wenn man sie versteht, erinnert an die Zeit, als England und Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts das Osmanische Reich unter Druck setzten, mit der Begründung, sie müssten die Christen und andere Minderheiten schützen. In Wirklichkeit ging es um ihren eigenen Einfluss im Land. Später übernahm Frankreich während der Kolonialzeit die Kontrolle in Syrien und kümmerte sich letztlich auch nicht um den Schutz der Minderheiten.

Heute scheint es ähnlich zu sein: Einige Länder gebrauchen das Thema „Minderheitenschutz“ als Vorwand, um Einfluss in Syrien zu gewinnen. Fast alle haben bereits ihren Einfluss dort verloren und versuchen nun, über den „Schutz“ von Minderheiten wieder einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Letztlich ist der Nahe Osten schon lange ein großes Spielfeld, auf dem zahlreiche Staaten ihre Machtspiele treiben. Die Frage ist, ob all diese Länder nach dem langen Krieg in Syrien und im Nahen Osten nun tatsächlich bereit sind, den Syrer*innen beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen – oder ob sie sie weiterhin unterdrücken wollen, nur um Einfluss in Syrien zu gewinnen.

Liebe Grüße
Hussam Al Zaher

Chefredakteur

PS:  Danke und shukran, dass du dabei bist! Falls du neu dazu gekommen bist, fülle bitte diese kurze Umfrage aus.


Eine kurze Zusammenfassung der Lage:

Sicherheitslage und Tötungsdelikte:

Änderungen im Lehrplan

Die Entscheidung des syrischen Bildungsministeriums in der Übergangsregierung, teilweise Änderungen an den Lehrplänen vorzunehmen, hat in Syrien große Diskussionen ausgelöst.

Das Ministerium beschloss zudem, das Fach „Nationale Erziehung“ abzuschaffen, „weil es falsche Informationen enthalte, die der Propaganda des entmachteten Assad-Regimes dienen und seine Parteigrundsätze festigen sollen.“

Im Rahmen der neuen Lehrplanänderungen wurden Passagen und Textstellen entfernt, die sich auf das Assad-Regime und den „Befreiungskrieg im Oktober“ (ḥarb tašrīn al-taḥrīriyya) beziehen. Ebenso wurden bestimmte Bilder gestrichen oder verändert.

Darüber hinaus wurden jene Passagen gelöscht, die die osmanische Herrschaft als „tyrannische Osmanenherrschaft“ bezeichnen, sowie „schwache Hadithe“, Themen zum „Ursprung und zur Entwicklung des Lebens“ und zur „Entwicklung des Gehirns“.

Zu den Änderungen, die für besonders viel Aufsehen sorgten, gehören:

Jüdische Gemeinschaft in Syrien

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Syrien, Bachur Schammtob, erklärte laut „Rudaw Digital“, dass sich im Ausland lebende Jüd*innen mit ihm in Verbindung setzen, um die Eliyahu-Hanavi-Synagoge im Damaszener Stadtteil Dschobar nach den Schäden des 13 Jahre andauernden Konflikts wiederaufzubauen.

Der 74-jährige Schammtob, der gemeinsam mit einigen syrischen Jüd*innen zum ersten Mal seit 15 Jahren die Synagoge besuchte, sagte: „Vor dem Konflikt war die Synagoge intakt. Wir konnten sie ganz selbstverständlich betreten. Jetzt bin ich verstört und schockiert, sie in diesem Zustand zu sehen. Wir hoffen, dass sie wieder so wird, wie sie einmal war, aber das wird Zeit brauchen.“ Er betonte, dass diese Synagoge für die jüdische Gemeinschaft in Syrien von großer Bedeutung sei.

Schammtob erläuterte, dass sie vor Ausbruch des Krieges regelmäßig samstags zum Beten nach Dschobar kamen. „Ich erinnere mich noch an die auf Hirschleder geschriebene Tora, die Kronleuchter, Gemälde und Teppiche – all das ist verschwunden und wurde wahrscheinlich von Dieben gestohlen.“

Er fügte hinzu, dass er trotz des Krieges und obwohl alle seine zwölf Geschwister das Land verließen, selbst nicht aus Syrien fortgehen wollte. „Ich bin zufrieden – ich bin zwar Jude, doch alle mögen mich. Egal wo ich hinkomme, begrüßen sie mich mit ‚Schalom, Schalom‘. Ich habe keine Probleme, ganz im Gegenteil“, sagte er.

Weiter erläuterte Schammtob: „Wenn die Leute erfahren, dass ich Jude bin, dann zeigen sie mir gegenüber Freude. Sie mögen Juden, aber manche haben ein falsches Bild von uns. Wenn sie jedoch mit uns zusammenleben, merken sie, dass dieses Bild nicht stimmt. Der Jude ist friedlich, er schadet niemandem, verursacht keine Probleme.“

Die Eliyahu-Hanavi-Synagoge im Stadtteil Dschobar gilt als eines der ältesten jüdischen Gotteshäuser der Welt. Ihr Bau geht auf das Jahr 720 v. Chr. zurück. Sie wurde schwer beschädigt: Wände und Dächer sind eingestürzt, und ein Teil ihrer historischen Gegenstände ging verloren.

Mutmaßliche Verwicklung früherer Assad-Anhänger in KindesentführungenIn jüngster Zeit kursieren unter Syrer*innen Dokumente, die belegen sollen, dass Angehörige des entmachteten Assad-Regimes an Kindesentführungen beteiligt waren. Die Kinder wurden demnach nach Änderung von Namen und Identität in Waisenhäuser gebracht.

Laut der Tageszeitung „al-Araby al-Jadeed“ deuten die Unterlagen darauf hin, dass diese Verbrechen unter Aufsicht ranghoher Geheimdienstapparate – allen voran des Luftwaffengeheimdienstes (al-Muchabarat al-Dschawwiyya) – und mit Kenntnis des syrischen Sozial- und Arbeitsministeriums verübt wurden.

Dabei rückt auch wieder der Fall der syrischen Ärztin Rania al-Abbasi in den Fokus. Sie und ihre Kinder sind seit ihrer Verhaftung zu Beginn der syrischen Revolution verschwunden. Dies wirft erneut Fragen nach dem Schicksal Hunderter Kinder auf, deren Familien seit 2011 jede Spur verloren haben.

Der Fall Rania al-Abbasi und die Rolle von „SOS“ bei der IdentitätsänderungDie syrische Schachmeisterin Rania al-Abbasi wurde im März 2013 in ihrem Haus in Homs gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren fünf Kindern – Dima (14), Intisar (11), Najah (9), Walaa (8) und Layan (1,5) – verhaftet.

Ihre Verhaftung wurde damit begründet, dass sie Hilfsgüter aus Homs bereitgestellt hatte, zu einer Zeit, als die syrische Revolution gerade begann. Ein Jahr später musste ihre Familie erfahren, dass Ranas Ehemann getötet worden war, nachdem sein Bild in den sogenannten „Caesar“-Dateien, die von einem geflüchteten Militärfotografen stammten, identifiziert wurde.

Später tauchte in einem Werbeclip der internationalen Hilfsorganisation „SOS“ ein Mädchen auf, das nach Aussage von Rania al-Abbasis Bruder Hassan ihre Tochter sein könnte. Doch seine Versuche, mit der Organisation Kontakt aufzunehmen, um Informationen über den Verbleib seiner Nichten und Neffen zu erhalten, stießen auf Abwehr. Die Organisation beharrte darauf, dass das im Video gezeigte Mädchen eine Familie habe, die es regelmäßig besuche, und nicht mit der Familie al-Abbasi verwandt sei.

Komplizenschaft mit dem RegimeHassan al-Abbasi beschuldigt die internationale Organisation „SOS“, die eng mit Asma al-Assad – der Ehefrau des gestürzten syrischen Machthabers Baschar al-Assad – verbunden sei, in die Fälle verschwundener Kinder verwickelt zu sein. Sie habe mit dem früheren syrischen Regime zusammengearbeitet, um Namen und Identitäten von Kindern inhaftierter Eltern zu verändern und diese Kinder verschwinden zu lassen.

Gegenüber „al-Araby al-Jadeed“ betonte al-Abbasi, dass „SOS“ über die Umbenennung der Kinder Bescheid wusste, die vom syrischen Geheimdienst in die Obhut der Organisation überstellt wurden. Er bemühe sich mit allen Mitteln, das Schicksal der Kinder seiner Schwester in Erfahrung zu bringen.

Außerdem forderte er Ermittlungen gegen Kinderbetreuungseinrichtungen, die mit dem Regime kooperierten, etwa das Waisenhaus „Sayyid Quraysch“ und „Dar al-Amān“, und wies darauf hin, dass einige Führungskräfte dieser Einrichtungen ranghohe Offiziere in den syrischen Sicherheitsbehörden gewesen seien.

In diesem Zusammenhang schilderte Fida Dakouri, Leiterin der Kinderhilfsorganisation „Difa“, auf Facebook, dass bewaffnete Personen kürzlich das Gebäude ihrer Organisation durchsucht hätten. Dabei hätten sie nach vermissten Kindern gesucht, die möglicherweise in „SOS“-Einrichtungen untergebracht seien.

Unklare Dokumentationen und fehlende UnterlagenViele Vermisstenfälle werfen Zweifel an der Rolle von „SOS“ auf. Berichten zufolge fehlt es etlichen in Waisenhäuser gebrachten Kindern an jeglicher Dokumentation. Laut der offiziellen Darstellung von „SOS“ hatten die syrischen Behörden bis 2019 Kinder ohne Unterlagen in die Heime geschickt. Erst seit 2019 verlange die Organisation, dass Kinder nicht mehr ohne offizielle Dokumente überstellt werden.

Betul Muhammad, Leiterin der Betreuungsdienste in einem der „SOS“-Kinderdörfer, wird in „al-Araby al-Jadeed“ damit zitiert, dass die Aufnahme von Kindern stets den festgelegten Verfahrensabläufen folge und man bei keiner der bisher überprüften Aufnahmen habe feststellen können, dass diese Kinder von Inhaftierten abstammten. Es habe keine Dokumente gegeben, die auf ihre tatsächliche Identität schließen ließen.

Andererseits erklärt Asim al-Zuʿbi vom Menschenrechtsbündnis „Ahrar Horan“, dass viele Kinder, die in Waisenhäusern landeten, ihre ursprünglichen Namen oder Identitäten verloren hätten. Al-Zuʿbi glaubt, dass eine Identifizierung mithilfe der eigenen Familienangehörigen oder mittels DNA-Tests grundsätzlich möglich wäre.

Nach seiner Einschätzung müssten sämtliche Verdachtsfälle, in denen Kindern neue Identitäten zugewiesen wurden, gründlich untersucht werden. Dies setze ernsthafte juristische und strafrechtliche Ermittlungen voraus.

In diesem Sinne forderte auch der Aktivist Majd al-Amin im Gespräch mit „al-Araby al-Jadeed“ eine internationale Untersuchung zum Verbleib der in „SOS“-Waisenhäuser untergebrachten Kinder. Viele von ihnen hätten ursprünglich mit ihren Familien zusammen gelebt und seien entweder gemeinsam in Haft geraten oder aufgrund von Krieg und Misshandlungen in syrischen Gefängnissen voneinander getrennt worden. Al-Amin ist überzeugt, dass eine Umbenennung der Kinder für ihre Familien eine neue Tragödie darstelle, da die Suche nach ihnen dadurch erheblich erschwert werde.

Viele Berichte dokumentieren ähnliche Fälle. So berichteten Kinder, die in „SOS“-Waisenhäusern aufwuchsen, sie seien unter undurchsichtigen Umständen dorthin gebracht worden. Alaa Radschub zum Beispiel wuchs in einer solchen Einrichtung auf. Er schildert in einem Video, das „al-Araby al-Jadeed“ vorliegt, dass er im Alter von sieben Jahren zusammen mit seinem Onkel verhaftet und anschließend in ein Kinderheim nach Damaskus gebracht wurde, wo man ihm einen neuen Namen gab. Später sei er aus Syrien geflohen, um nicht zum Militärdienst gezwungen zu werden.

Forderung nach AufklärungZahlreiche Menschenrechtsorganisationen pochen darauf, dass das Schicksal der in den vergangenen Jahren verschwundenen oder mutmaßlich umbenannten Kinder dringend aufgeklärt werden müsse. Sie weisen darauf hin, dass das Thema der verschwundenen Kinder, die seit Beginn der Revolution zusammen mit ihren Eltern verhaftet wurden, eine gravierende humanitäre Tragödie darstelle, die sofortige internationale Aufmerksamkeit verlange.

Diese Organisationen drängen auf umfassende internationale Untersuchungen und Ermittlungen – insbesondere angesichts der neuen Indizien, wonach auch internationale Einrichtungen wie „SOS“ in Identitätsänderungen verwickelt gewesen sein könnten. Die Forderungen richten sich sowohl an die syrische Übergangsregierung als auch an internationale Menschenrechtsorganisationen, damit die Schicksale der betroffenen Kinder endlich geklärt werden.

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