Als meine Eltern 1995 aus Santiago de Chile nach Berlin emigrierten, stieß meine Mamá auf eine signifikante Überraschung. Sie begegnete zum ersten Mal in ihrem Leben einer Muslima. Damals dachte sie noch, das Kopftuch stamme aus der Verbindung zu Gottes Mutter Maria. Jedoch stellte sie im Nachhinein fest, dass die vielen Frauen mit Kopftuch in Moabit einer anderen Religion angehörten: dem Islam. Nun war die religiöse Unschuld verloren, und das richtige Chaos konnte beginnen.
Das Leben meiner Eltern war durch die militärische Diktatur Pinochets geprägt. Ihr Zufluchtsort war die Kirche, deren Erziehung in meiner Kindheit auch bei mir noch Früchte trug. Obwohl ich in der multikulturellen Stadt Berlin aufgewachsen bin, bewahrten mich meine Eltern in ihrer Blase: Jedes Mahl wurde mit einem Padre Nuestro begleitet, jede Nacht wurde ein Ave María gebetet und jeden Sonntag ist man zur Iglesia gegangen.
Ich besuchte einen katholischen Kindergarten, eine katholische Grundschule und ein katholisches Gymnasium. Meine Freizeit verbrachte ich damit, mich in einem katholischen Pfadfinderinnen-Verein zu engagieren und mit Ministranteninnen abzuhängen. Doch würde ich mich als treue Katholikin bezeichnen? Eher nicht. Hier in Deutschland begleitete mich in der kirchlichen Gemeinschaft ein Schamgefühl, das einerseits von Skandalen und Intrigen beeinflusst wurde. Andererseits stellte ich bei meiner Familie in Chile fest, wie die Kirche ihnen eine ignorante und naive Vernunft weismachen wollte. Ich sah keinen Sinn darin, an einen El Dios Sagrado zu glauben, den man nicht einmal hinterfragen darf. Meine Blase ist geplatzt.
Wir und die Anderen
Religionen, vor allem die monotheistischen Religionen, hatten schon immer einen starken historischen Einfluss. Aber besonders Kultur wird von Religion geformt. In diesem Kontext hängen Kultur und Religion unausweichlich zusammen, denn beide sind identitätsstiftend und geben Orientierung, beide vermitteln Hoffnung und nehmen Angst und beide geben dem menschlichen Leben eine höhere Bedeutung.
Ich wuchs in einem chilenisch kulturellen Haushalt auf, der von einem religiösen Rahmen umgeben war. Lange empfand ich diesen „Lifestyle“ als irritierend und belastend, da ich mich nicht toleriert gefühlt habe. Aus welchem Grund, soll ich mich von etwas bedrängen lassen, das mir nicht das Gefühl von Zugehörigkeit geben kann. Dennoch hatte ich Angst, mich als katholische Chilenin zu verlieren. Nach einiger Zeit begriff ich, dass mir eine temporäre und unvollständige Wahrheit erzählt wurde. Durch Kontakt mit unterschiedlichen Meinungen wurde mir klar, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt. Ich wollte mir meine eigene kulturelle Identifikation zurückholen.
Aktuell etabliert sich ein öffentlicher Diskurs, der die religiöse Beständigkeit auf die Probe stellt. Wie kann dieser religiös-kulturelle Wandel in unserer globalisierten Gesellschaft kommuniziert werden? Eine Frage, die unterschiedlich beantworten werden kann:
Religiöse Ansichten in homogenen Gesellschaftsstrukturen prägen das Verständnis für anderen Religionen und Atheismus nicht auf dieselbe Weise, wie in globalisierten Gesellschaften. Trotzdem stößt man, auch hier in Deutschland, auf Fremdenfeindlichkeit. Die Angst gegenüber anderen religiösen Weltanschauungen basiert auf unreflektierter Übernahme kultureller Stereotypen. Doch wie der Psychologe Perry Hinton sagt: »[…] stereotyping involves judging people as category members rather than individuals.«
Der typische Denkansatz Wir und die Anderen schleppt im Fall der drei monotheistischen Weltreligionen antisemitische Vorwürfe, islamfeindliche Anschläge und antichristliche Pauschalisierungen mit. Diese dogmatischen Klischees sind eine gewaltige Bedrohung für die Weiterentwicklung homogener Gesellschaften.
Representation Matters
Medien haben die Verantwortung, religiöse und kulturelle Eigenschaften strukturiert zu kommunizieren. Aufgrund ihrer komplexen Tiefe wird schnell eine subjektive Reduzierung vorgenommen, welche die Betroffenen nicht repräsentiert. Die Abbildung jener kulturellen und religiösen Realitäten beruht auf der Auswahl der Fakten, Erzählungen und Ereignisse, aber auch auf dem Fehlen von Kontakt und Auseinandersetzung mit der dementsprechenden Kultur. Deswegen ist die selektierte Perspektive für das mediale Endprodukt entscheidend.
Digitale Medien, Printmedien und Werbung übermitteln nur einige von vielen kulturellen Wirklichkeiten. Da Religion in vielen Kulturen zur Realität gehört, sollte sie auch in den Medien global repräsentiert und kommuniziert werden und das nicht nur aus dem westlichen Standpunkt. Entscheidende Differenzen, aber auch Gemeinsamkeiten von Religion und Kultur können so ans Licht gebracht und zelebriert werden. Sobald ein Stück der Komplexität wegfällt, wirkt ein so persönliches Thema identifizierend und somit greifbarer. Mein Lieblingsbeispiel ist die Benetton-Kampagne von Oliviero Toscani.
Mit einer scharfsinnigen Darstellung wird mit der Juxtaposition zwischen religiöser Kultur und Menschlichkeit gespielt. Es ist faszinierend, dass die Kampagne, obwohl sie vor allem als skandalös und irritierend aufgenommen wurde, die Diskussion direkt auf den Punkt bringt: Unsere Gegensätze müssen nicht Annäherungen ausschließen.
Kommunikation besitzt das enorme Potenzial, Kultur und Religion zu evolvieren. Auch wenn manche Gesellschaftssysteme unerreichbar scheinen, bleiben die Ressourcen keine Illusion. Kommunikation kann Strukturen offener gestalten und bilden. Kommunikation kann Strukturen revolutionieren.
Die Nähe zum Göttlichen
Nach 25 Jahren in Moabit haben meine Eltern ihre kulturelle und religiöse Perspektive erweitert. Jedes Mahl wird mit Dank gegessen, jede Nacht wird ruhig geschlafen und an jedem Sonntag wird unsere Kultur mit lateinamerikanischer Musik und chilenischem Essen geehrt. Ich studiere an einer staatlichen Hochschule, ich treffe mich mit verschiedenen Menschen und ich verbringe meine Freizeit so wie ich will. Meine Eltern haben keine Angst mehr vor dem Fremden.
Lustigerweise fühle ich mich jetzt mit dem Göttlichen näher verbunden als je zuvor. Erst als ich mit 18 Jahren Menschen kennenlernen durfte, die einer fremden oder keiner Religion angehörten, habe ich die göttliche Transzendenz begriffen. Es war für mich erstaunlich, dass ich mit diesen Personen mehr Gemeinsamkeiten teilte als mit denen aus meiner ehemaligen Gemeinde. Denn die Religion formt nicht den Menschen, sondern der Mensch die Religion.