Bitte cancel mich jetzt nicht dafür, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es so etwas wie die „Cancel Culture“ nicht gibt. Also, natürlich gibt es einzelne Fälle, wo ein Mensch komplett von der Bildfläche weggecancelt wird, und ja, natürlich kommt es auch mal vor, dass Menschen zur Rechenschaft gezogen werden und Verantwortung für ihre kriminellen Taten übernehmen müssen. Aber dass das eine Kultur in der Unterhaltungsbranche ist, daran glaube ich einfach nicht. Irgendwie scheint es cool geworden zu sein, sagen zu können, dass man gecancelt wird oder wurde.
Und irgendwie kommt so ein Satz immer von einer Person, die schon immer da gewesen ist und immer bleiben wird. Ich muss immer schmunzeln, wenn zum Beispiel ein bestimmter indischer Regisseur, der für seine Social-Media-Beefs bekannt ist, alle paar Jahre in Interviews sagt, dass er für seine Meinungen schon so oft gecancelt wurde. Aber irgendwie macht er weiterhin Filme.
Warum ich heute über dieses Thema nachdenke, ist Schauspieler Will Smith. Wenn du die letzten paar Jahre nicht irgendwo im Wald gelebt hast, dann hast auch du mit Sicherheit mitbekommen, was Smith vor zwei Jahren bei den Oscars getan hat, beziehungsweise was er seinem Kollegen Chris Rock angetan hat. Um die Ehre (?) seiner Frau Jada Pinkett Smith zu verteidigen (?), nachdem Rock einen Witz (?) über sie gerissen hatte, stürmte Smith auf die Bühne und verpasste ihm eine Ohrfeige. Du merkst, ich bin immer noch leicht verwirrt über die Einzelheiten dieser Affäre und wie bizarr das alles war.
Zu der Zeit dachten viele, dass das vielleicht ein Teil der Show sei. Doch spätestens als Smith sich wieder hingesetzt und ein paar Mal Richtung Rock geschrien hatte, er solle den Namen seiner Frau nie wieder in den Mund nehmen, war allen klar, wie ernst die Situation ist. Natürlich gewann Will Smith später seinen ersten Oscar als bester Schauspieler. Sein Abend war komplett. Mehr Hollywood geht nicht.
Es folgten die üblichen Think Pieces über Comedy und Grenzen und Gewalt und über das Schwarzsein in Hollywood. Es zeichneten sich zwei Gruppen ab: die einen unterstützten Will Smith („Ja, Gewalt ist keine Lösung, aber Chris Rock hat es verdient“) und dann gab es noch eine Gruppe, die normal ist und klar denkt. Natürlich gehörte ich irgendwo dazwischen. Wie dem auch sei: Will Smith entschuldigte sich (interessanterweise nicht während seiner Dankesrede, sondern erst mehrere Monate später) und Chris Rock veröffentlichte ein Netflix-Special, wo er über Will und Jada Pinketts Beziehung herzog und die Klatsche aus seiner Perspektive schilderte. Während all dieser Zeit schwebte das große C-Wort über Will Smith.
Aber du weißt, was jetzt kommt: Das hat „nur“ zwei Jahre gedauert. Will Smith ist back – und wie! Mit Bad Boys: Ride or Die, dem vierten Teil seiner Buddy-Cop-Reihe mit Martin Lawrence an seiner Seite. Und dazu eine Marketing-Kampagne, zahlreiche Interviews, charmante Social-Media-Clips, und viel wichtiger, einigermaßen gute Kritiken zum Film. Will Smith hat bewiesen, dass man ihn doch nicht für einen bloßen Schlag gegen Chris Rock canceln kann. Und wenn ich ehrlich bin: Gut so. Es gibt viel Schlimmeres. Ein Hollywood ohne Will Smith wäre tatsächlich langweiliger. Aber rede nie wieder über Cancel Culture.
Problematischer wird es bei ernsteren Fällen (Wobei ich nicht sage, dass es nicht ernst ist, wenn man live vor Millionen von Menschen vor laufender Kamera geschlagen wird, sorry Chris Rock). Der Schauspieler Kevin Spacey wurde im Zuge der MeToo-Kampagne mit mehreren Vorwürfen der sexuellen Belästigung von männlichen Kollegen konfrontiert. Er outete sich dabei (das Timing kam überhaupt nicht gut an in der LGBT-Community) und versuchte, das Ganze als „drunken behaviour“, an das er sich nicht mehr erinnern kann, herunterzuspielen. Und dann war Spacey bis auf die eine oder andere skurrile Videobotschaft für mehrere Jahre untergetaucht.
Hier wäre bis vor ein paar Monaten der Begriff „Cancel Culture“ zutreffend gewesen, und zwar im positiven Sinne. Das ist aber auch noch einmal ein Thema für sich, wann Culture Culture nur verwendet wird, weil man nicht mehr sagen oder machen darf, was politisch nicht korrekt ist, oder wenn man zur Rede gestellt wird und die Konsequenzen davon tragen muss.
Es ist nämlich etwas anderes, wenn Aktivistinnen jemanden canceln, oder versuchen zu canceln, wenn er oder sie beispielsweise etwas Rassistisches von sich gibt (Das ist vor allem auf „Black Twitter“ so gewesen, als Schwarze Aktivistinnen den Begriff vor einigen Jahren aufgegriffen und neu angewendet haben), oder wenn ein Rassist sagt, dass er für das, was er sagt, gecancelt wird.
Aber zurück zu Kevin Spacey: Er wurde freigesprochen, trotz einer Dokumentation, in der weitere Männer zu Wort kommen, die nicht Teil dieses Gerichtsverfahren waren und dem zweifachen Oscar-Gewinner ähnliches vorwerfen. Spacey hat sich nach dem Freispruch zu Wort gemeldet, in mehreren Podcasts und einem längeren Interview mit Piers Morgan; er hat seine Unschuld beteuert, er sei nun mal einer, der gerne flirtet mit jüngeren Kollegen, der seine Macht ausgenutzt hat, der „too handsy“ (seine Worte) ist, aber keineswegs ein Monster.
Ich möchte hier kein Urteil darüber treffen, ob Kevin Spacey das getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Auch das ist meiner Meinung nach ein anderes Thema. Was ich viel interessanter finde, ist, dass er überhaupt zurück ist. Und wie er zurückgekehrt ist. Wie diese PR-Maschinerie in Hollywood funktioniert. Schauspielerkolleginnen und -kollegen haben seinen Rücken. Er bekommt eine Plattform bei namhaften Medien, um sich reinzuwaschen. Und er arbeitet bereits an neuen Filmen. Die Cancel Culture existiert eben nicht. Wer darf als Nächstes zurückkehren?
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